17
Es gibt Tatsachen, die trotz allen Bemühungen kaum bekannt werden, obwohl
sie so klar und offensichtlich sind. Auch biblische Wahrheiten.
Hier erfahren Sie eine
solche Wahrheit: daß an einem großartigen Tag Jesus Christus auf diese Erde
zurückkommt. Und dieser Tag könnte schon bald sein...
Eine der feierlichsten und gleicher Zeit köstlichsten aller in der Bibel
offenbarten Wahrheiten ist die von dem zweiten Kommen Christi zur Vollendung des
großen Erlösungswerkes. Dem Pilgervolke Gottes, das so lange „in Finsternis
und Schatten des Todes“ wandern muß, bietet die Verheißung der Erscheinung
dessen, der „die Auferstehung und das Leben“ ist, der die Verbannten wieder
heimbringen wird, eine köstliche, beglückende Hoffnung. Die Lehre von dem
zweiten Kommen ist der eigentliche Grundton der Heiligen Schrift.
Von dem Tage an, als das erste Menschenpaar trauerndes Schrittes Eden verließ,
haben die Glaubenskinder der Ankunft des Verheißenen, der die Macht des Zerstörers
brechen und sie wiederum in das verlorene Paradies zurückbringen wird, geharrt.
Die heiligen Männer vor alters warteten auf Hoffnung. Henoch, nur der siebente
von Adam, der im Paradiese wohnte, er, der drei Jahrhunderte lang auf Erden mit
Gott wandelte, durfte von fern die Ankunft des Befreiers schauen. „Siehe,“
sagte er, „der Herr kommt mit vielen tausend Heiligen, Gericht zu halten über
alle.“ (Judas 14. 15.) Der Patriarch Hiob rief in der Nacht seiner Leiden mit
unerschütterlichem Vertrauen aus: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt; und
als der letzte wird er über dem Staube sich erheben [stehen]... und werde in
meinem Fleisch Gott sehen. Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden
ihn schauen, und kein Fremder.“ (Hiob 19, 25-27.)
Das Kommen Christi, um die Herrschaft der Gerechtigkeit einzuführen, hat
die heiligen Schreiber zu höchst erhabenen und begeisternden Aussprüchen
veranlaßt. Die Dichter und Propheten der Bibel haben sich darüber in Worten
ergangen, die mit himmlischem Feuer glühten. Der Psalmist sang von der Macht
und Majestät des Königs Israels: „Aus Zion bricht an der schöne Glanz
Gottes. Unser Gott kommt und schweigt nicht. ... Er ruft Himmel und Erde, daß er sein Volk richte.“ „Der Himmel
freue sich, und die Erde sei fröhlich... vor dem Herrn, denn er kommt, denn er
kommt, zu richten das Erdreich. Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit
und die Völker mit seiner Wahrheit.“ (Ps. 50, 2-4; 96, 11. 13.)
Der
Prophet Jesaja sagte: „Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde!
Denn dein Tau ist ein Tau des grünen Feldes; aber das Land der Toten wirst du
stürzen.“ „Aber deine Toten werden leben, meine Leichname werden
auferstehen.“ „Er wird den Tod verschlingen ewiglich; und der Herr, Herr
wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach
seines Volks in allen Landen; denn der Herr hat’s gesagt. Zu
der Zeit wird man sagen: Siehe, das ist unser Gott, auf den wir harren, und er
wird uns helfen; das ist der Herr, auf den wir harren, daß wir uns freuen und
fröhlich seien in seinem Heil.“ (Jes. 26, 19; 25, 8. 9.)
Habakuk, entzückt in einem heiligen Gesicht, schaute Christi Erscheinen: „Gott kam vom Mittag und der Heilige vom Gebirge Pharan. Seines Lobes war der Himmel voll, und seiner Ehre war die Erde voll. Sein Glanz war wie Licht.“ „Er stand und maß die Erde, er schaute und machte beben die Heiden, daß zerschmettert wurden die Berge, die von alters her sind, und sich bücken mußten die ewigen Hügel, da er wie vor alters einherzog.“ „Da du auf deinen Rossen rittest und deine Wagen den Sieg behielten.“ „Die Berge sahen dich und ihnen ward bange; ... die Tiefe ließ sich hören, die Höhe hob die Hände auf. Sonne und Mond standen still. Deine Pfeile fuhren mit Glänzen dahin, und deine Speere mit Leuchten des Blitzes.“ „Du zogest aus, deinem Volk zu helfen, zu helfen deinem Gesalbten.“ (Hab. 3, 3. 4. 6. 8. 10. 11. 13.)
Als
der Heiland im Begriff war, sich von seinen Jüngern zu trennen, tröstete er
sie in ihrem Leid mit der Versicherung, daß er wiederkommen wolle: „Euer
Herz erschrecke nicht. ... In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. . -. Ich
gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte
zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen.“ (Joh. 14, 1-3.)
„Wenn aber des Menschen Sohn kommen
wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen
auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt
werden.“ (Matth. 25, 31. 32.)
Die Engel, welche nach der Himmelfahrt Christi am Ölberge weilten, wiederholten den Jüngern die Verheißung seiner Wiederkunft: „Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ (Apg. 1, 11.) Der Apostel Paulus bezeugt unter Eingebung des Heiligen Geistes: „Denn er selbst, der Herr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel.“ (l. Thess. 4, 16.) Der Prophet von Patmos sagt: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen.“ (Offb. 1, 7.)
Um sein Kommen reihen sich die Herrlichkeiten jener Zeit, „da herwieder gebracht werde alles, was Gott geredet hat durch den Mund aller seiner heiligen Propheten, von der Welt an.“ (Apg. 3, 21.) Dann wird die so lang bestandene Herrschaft des Bösen gebrochen werden; „es sind die Reiche der Welt unsres Herrn und seines Christus geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offb. 11, 15.) „Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen.“ „Gleichwie Gewächs aus der Erde wächst,... also wird Gerechtigkeit und Lob vor allen Heiden aufgehen aus dem Herrn, Herrn.“ „Zu der Zeit wird der Herr Zebaoth sein eine liebliche Krone und ein herrlicher Kranz den Übriggebliebenen seines Volks.“ (Jes. 40, 5; 61, 11; 28, 5.)
Dann
wird das friedensvolle und. lang ersehnte Reich des Messias unter dem ganzen
Himmel aufgerichtet werden. „Denn der Herr tröstet Zion, er tröstet alle
ihre Wüsten und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten
des Herrn.“ „Denn die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, der Schmuck
Karmels und Sarons.“ „Man soll dich nicht mehr die Verlassene noch dein Land
eine Wüstung heißen; sondern du sollst ’Meine Lust an ihr’ und dein Land
’Liebes Weib’ heißen.“ „Wie sich ein Bräutigam freut über die Braut,
so wird sich dein Gott über dich freuen.“ (Jes. 51, 3; 35, 2; 62, 4. 5.)
Das Kommen des Herrn war zu jener Zeit die Hoffnung seiner wahren Nachfolger.
Die Abschiedsverheißungen des Heilandes auf dem Ölberg, daß er wiederkommen
werde, erhellte den Jüngern die Zukunft und erfüllte ihre Herzen mit einer
Freude und Hoffnung, die weder Sorgen dämpfen noch Prüfungen schwächen
konnten. Unter Leiden und Verfolgungen war „die Erscheinung des großen Gottes
und unseres Heilandes, Jesu Christi,“ „die selige Hoffnung.“
(Tit. 2, 13.) Als die Christen zu Thessalonich von Leid erfüllt waren bei der
Bestattung ihrer Lieben, die gehofft hatten, das Kommen des Herrn zu sehen,
verwies Paulus, ihr Lehrer, sie auf die Auferstehung, welche bei der Ankunft
Christi stattfinden würde. Dann sollen die Toten in Christo auferstehen und
zusammen mit den Lebenden dem Herrn entgegen gerückt werden in der Luft. „Und
werden also,“ sagt er, „bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch nun
mit diesen Worten untereinander.“ (l. Thess. 4, 16-18.)
Auf
dem felsigen Patmos hört der geliebte Jünger die Verheißung: „Siehe, ich
komme bald!“ und seine sehnsuchtsvolle Antwort ertönt in dem Gebet der
Gemeinde auf ihrer ganzen Pilgerreise: „Ja komm, Herr Jesu!“ (Offb. 22, 7.
20.)
Aus
dem Kerker, von dem Marterpfahl und dem Schafott, wo die Heiligen und Märtyrer
für die Wahrheit Zeugnis ablegten, vernimmt man durch alle Jahrhunderte
hindurch den Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Hoffnung. Von der persönlichen
Auferstehung Christi und damit auch von der ihrigen zur Zeit seines Kommens überzeugt,
verachteten diese Christen den Tod und standen über ihm erhaben. Sie waren
bereit, in das Grab hinabzusteigen, auf daß sie frei auferstehen möchten. Sie
sehen „dem Erscheinen des Herrn in den Wolken, in der Herrlichkeit des Vaters
entgegen“, „den Gerechten die Zeiten des Himmelreiches zu bringen.“ Die
Waldenser hegten denselben Glauben. Wiklif sah der Erscheinung des Heilandes als
der Hoffnung der Kirche entgegen.
Luther
erklärte: „Ich sage mir wahrlich, der Tag des Gerichtes könne keine volle
dreihundert Jahre mehr ausbleiben. Gott will und kann diese gottlose Welt nicht
länger dulden. Der große Tag naht, an welchem das Reich der Greuel gestürzt
werden wird.“ (Taylor, Stimme der Kirche, S. 129 ff .)
„Diese veraltete Welt ist nicht fern von ihrem Ende“ sagt Melanchthon.
Kalvin fordert die Christen auf, nicht unschlüssig zu sein und „brennend nach
der Ankunft des Tages des Herrn zu verlangen, als von allen Tagen der heilsamste“;
und er erklärt, daß die ganze Familie der Getreuen diesen Tag vor Augen
behalten wird. Er sagt: „Wir müssen nach Christo hungern, ihn suchen,
erforschen, bis zum Anbrechen jenes großen Tages, an dem unser Herr die
Herrlichkeit seines Reiches völlig offenbaren wird.“
(Ebd., S. 158.134.)
„Ist nicht unser Herr Jesus in unserm Fleische in den Himmel gefahren?“ sagte Knox, der schottische Reformator, „und wird er nicht wiederkommen? Wir wissen, daß er wiederkommen wird, und das in Eile.“ Ridley und Latimer, welche beide ihr Leben für die Wahrheit niederlegten, sahen im Glauben der Ankunft des Herrn entgegen. Ridley schrieb: „Die Welt geht unzweifelhaft dies glaube ich, und deshalb sage ich es - dem Ende entgegen. Lasset uns mit Johannes, dem Knecht Christi, rufen: Komme bald, Herr Jesu!“ (Ebd., S. 151. 145.)
Baxter
sagt: „Der Gedanke an das Kommen des Herrn ist mir überaus köstlich und
freudenvoll.“ „Seine Erscheinung liebzuhaben und der seligen Hoffnung
entgegenzusehen, ist das Werk des Glaubens und kennzeichnet seine Heiligen.“
„Wenn der Tod der letzte Feind ist, der bei der Auferstehung zerstört werden
soll, so können wir begreifen, daß ernstlich Gläubige nach der zweiten
Ankunft Christi, wann dieser völlige und schließliche Sieg gewonnen werden
wird, verlangen und dafür beten sollten.“ (Baxters Werke, 17, S. 555.) Dies
ist der Tag, auf den alle Gläubigen als auf die Verwirklichung des ganzen
Werkes ihrer Erlösung und die Erfüllung aller ihrer Wünsche und Bestrebungen
harren, hoffen und warten sollten. ... Beschleunige, o Herr, diesen
segenbringenden Tag.“ (Ebd., S. 182. 183.) Derart war die Hoffnung der
apostolischen Kirche, der „Gemeinde der Wüste“ und der Reformatoren.
Die Weissagung sagt nicht nur die Art und Weise sowie den Zweck der
Wiederkunft Christi voraus, sondern gibt auch Zeichen an, woran man erkennen
kann, wann sie nahe ist. Jesus sagte: „Es werden Zeichen geschehen an Sonne
und Mond und Sternen.“ „Aber zu der Zeit, nach dieser Trübsal, werden Sonne
und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und
die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und dann werden sie sehen des
Menschen Sohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ (Luk.
21, 25; Markus 13, 24-26.) Johannes schildert in der Offenbarung das erste der
Zeichen, welche der zweiten Ankunft Christi vorausgehen, wie folgt: „Die Sonne
ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut.“
(Offb. 6, 12.)
Diese Zeichen wurden vor dem Anfang des 19. Jahrhunderts wahrgenommen. In Erfüllung dieser Weissagung fand im Jahre 1755 das allerschrecklichste Erdbeben statt, das je berichtet worden ist. Obgleich allgemein bekannt als das Erdbeben von Lissabon, dehnte es sich doch über den größeren Teil von Europa, Afrika und Amerika aus. Es wurde in Grönland, in Westindien und auf der Insel Madeira, in Schweden und Norwegen, Großbritannien und Irland verspürt. Es erstreckte sich über einen Flächenraum von nicht weniger als 4.000.000 Quadratmeilen (10.360.000 qkm). In Afrika war die Erschütterung beinahe ebenso heftig wie in Europa. Ein großer Teil von Algerien wurde zerstört, und in nur geringer Entfernung von Marokko wurde ein Dorf mit 8- bis 10.000 Einwohnern verschlungen. Eine ungeheure Woge, welche Städte fortriß und große Zerstörung verursachte, fegte über die Küsten von Spanien und Afrika.
In
Spanien und Portugal zeigten sich die Erdstöße mit äußerster Heftigkeit. In
Kadiz soll die hereinstürzende Woge 18 m hoch gewesen sein. „Etliche der größten
Berge in Portugal wurden heftig, sozusagen vom Grunde aus, erschüttert. Die
Gipfel etlicher öffneten sich und wurden auf wunderbare Weise gespalten und
zerrissen, wobei ungeheure Massen in die umliegenden Täler geschleudert wurden.
Man erzählt, daß diesen Bergen Flammen entstiegen.“ (Lyell, Grundrisse der
Geologie, S. 495.)
Zu Lissabon „wurde ein unterirdischer Donner vernommen, und unmittelbar
darauf stürzte durch einen heftigen Stoß der größere Teil jener Stadt ein.
Im Laufe von ungefähr sechs Minuten kamen 60.000 Menschen um. Das Meer zog sich
erst zurück und legte die Sandbank trocken, dann flutete es herein und erhob
sich mehr als 15 m über seinen gewöhnlichen Höhepunkt.“
„Unter anderen außerordentlichen Ereignissen, die sich während der
Katastrophe in Lissabon zutrugen, war das Versinken des neuen Kais, der mit
einem ungeheuren Kostenaufwand gänzlich aus Marmor hergestellt worden war. Eine
große Menschenmenge hatte sich hier sicherheitshalber, als an einem Ort, wo sie
außer dem Bereich der fallenden Trümmer sein könnte, gesammelt; doch plötzlich
sank der Kai mit all seinen Menschenmengen, und nicht einer der Leichname kam je
wieder an die Oberfläche.“ (Ebd.)
„Dem
Stoß“ des Erdbebens „folgte unmittelbar der Einsturz sämtlicher Kirchen
und Klöster, fast aller großen und öffentlichen Bauten und mehr als ein
Viertel der Häuser. Ungefähr zwei Stunden nach dem Stoß brach in den
verschiedenen Stadtvierteln Feuer aus und wütete beinahe drei Tage lang mit
solcher Gewalt, daß die Stadt gänzlich verwüstet wurde. Das Erdbeben trug
sich an einem Feiertage zu, als die Kirchen und Klöster voll von Leuten waren,
von denen nur sehr wenige entkamen.“ (Encyclopedia Americana, 1831, Art.
Lisbon.) „Der Schrecken des Volks überstieg alle Beschreibung. Niemand weinte;
das Unglück war zu groß. Die Menschen liefen hin und her, wahnsinnig vor
Schrecken und Entsetzen, schlugen sich in das Angesicht und an die Brust und
riefen: ’Misericordia! Die Welt geht unter!’ Mütter vergaßen ihre Kinder
und rannten mit Kruzifixen umher. Unglücklicherweise liefen viele in die
Kirchen, um Schutz zu suchen; aber vergebens wurde das Sakrament emporgehoben;
umsonst klammerten sich die armen Geschöpfe an die Altäre; Kruzifixe, Priester
und Volk wurden alle miteinander in dem gemeinsamen Untergang verschlungen.“
Man hat geschätzt, daß 90.000 Menschenleben an jenem verhängnisvollen Tage
umkamen.
Fünfundzwanzig Jahre später erschien das nächste in der Weissagung erwähnte
Zeichen - die Verfinsterung der Sonne und des Mondes, und zwar war dies um so
auffallender, da die Zeit seiner Erfüllung genau und bestimmt angegeben worden
war. Der Heiland erwähnte in seiner Unterredung mit den Jüngern auf dem Ölberg
nach der Schilderung der langen Trübsalszeit der Gemeinde den 1260 Jahren der päpstlichen
Verfolgung, hinsichtlich der er verheißen hatte, daß die Tage der Trübsal
verkürzt werden sollten gewisse Ereignisse, die seinem Kommen vorausgehen würden,
und stellte die Zeit fest, wann das erste davon gesehen werden sollte.
„Aber zu der Zeit, nach dieser Trübsal, werden Sonne und Mond ihren Schein
verlieren.“ (Mark. 13, 24.) Die 1260 Tage oder Jahre liefen mit dem Jahr 1798
ab. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatten die Verfolgungen beinahe gänzlich
aufgehört. Nach dieser Verfolgung sollte nach den Worten Christi die Sonne
verdunkelt werden. Am 19. Mai 1780 ging diese Weissagung in Erfüllung.
„Beinahe,
falls nicht gänzlich alleinstehend als die geheimnisvollste und bis dahin
unerklärte Naturerscheinung dieser Art steht der finstere Tag vom 19. Mai 1780
- eine höchst unerklärliche Verfinsterung des ganzen sichtbaren Himmels und
der Atmosphäre Neuenglands.“ (Devens, Unser erstes Jahrh., S. 89.)
Ein
in Massachusetts wohnender Augenzeuge beschreibt das Ereignis folgendermaßen:
„Am Morgen ging die Sonne klar auf, der Himmel überzog sich aber sehr
bald. Die Wolken senkten sich immer mehr, und indem sie dunkler und
unheildrohender wurden, zuckten die Blitze, und der Donner grollte, und etwas
Regen fiel. Gegen neun Uhr lichteten sich die Wolken und nahmen ein messing-
oder kupferfarbenes Aussehen an, so daß Erde, Felsen, Bäume, Gebäude, das
Wasser und die Menschen ganz verändert in diesem seltsamen, unheimlichen Licht
erschienen. In wenigen Minuten breitete sich eine schwere, schwarze Wolke über
das ganze Himmelsgewölbe mit Ausnahme eines schmalen Streifens am Horizont, und
es war so dunkel, wie es gewöhnlich im Sommer um neun Uhr abends ist...
Furcht,
Angst und heilige Scheu bemächtigten sich der Menschen. Frauen standen vor den
Türen und schauten auf die dunkle Landschaft, die Männer kehrten von ihrer
Feldarbeit zurück, der Zimmermann verließ seine Geräte, der Schmied seine
Werkstatt, der Kaufmann den Laden. Die Schulen wurden geschlossen, und die
zitternden Kinder rannten heim. Reisende nahmen Unterkunft in den nächsten
Landhäusern. ’Was soll das werden?’ fragten bebende Lippen und Herzen. Es
schien, als ob ein großer Sturm über das Land hereinbrechen wollte, oder als
ob das Ende aller Dinge gekommen sei.
Lichter
wurden angezündet, und das Feuer im offenen Kamin schien so hell wie an einem
Herbstabend ohne Mondlicht. ... Die Hühner erklommen ihre Ruhestangen und
schliefen ein, das Vieh ging an die Weidepforten und brüllte, Frösche quakten,
Vögel sangen ihr Abendlied, und die Fledermäuse begannen ihren nächtlichen
Flug. Aber die Menschen wußten, daß die Nacht nicht hereingebrochen war. ...
Dr.
Nathanael Whittacker, Prediger der Tabernakelkirche in Salem, hielt Andachtsübungen
im Versammlungssaal und behauptete in seiner Predigt, daß die Dunkelheit übernatürlich
sei. An vielen Orten wurden Versammlungen gehalten, und die Bibeltexte für die
unvorbereiteten Predigten waren ausschließlich solche, die andeuteten, daß die
Finsternis in Übereinstimmung mit der biblischen Weissagung war. .. . Etwas
nach elf Uhr war die Dunkelheit am stärksten.“ (Essex Antiquarian, Salem,
Mass., April 1899.) „An den meisten Orten war die Finsternis so dicht, daß
man weder nach der Uhr sehen noch die häuslichen Arbeiten ohne Kerzenlicht
verrichten konnte. . -.
„Die
Finsternis dehnte sich außergewöhnlich weit aus. Nach Osten erstreckte sie
sich bis Falmouth, nach Westen erreichte sie den äußersten Teil von
Connecticut und Albany, nach Süden wurde sie die ganze Seeküste entlang
bemerkt, und nach Norden reichte sie so weit wie die amerikanischen
Niederlassungen sich ausdehnten.“ (Gordon, Gesch. d. Ver. St., 3. Bd., S. 57.)
Der tiefen Finsternis dieses Tages folgte eine oder zwei Stunden vor
Sonnenuntergang ein teilweise klarer Himmel; die Sonne brach wieder hervor,
obgleich sie noch durch den schwarzen, schweren Nebel verschleiert wurde. „Nach
Sonnenuntergang stiegen die Wolken wieder höher und es wurde sehr schnell
dunkel.“ „Die Dunkelheit der Nacht war ebenso ungewöhnlich und erschreckend
wie die des Tages, denn obgleich es beinahe Vollmond war, ließ sich doch kein
Gegenstand ohne künstliches Licht unterscheiden, und dieses nahm sich von den
Nachbarhäusern und andern Orten aus, als ob es durch eine ägyptische
Finsternis dringe, welche für die Strahlen beinahe undurchdringlich war.“
(Massachusetts Spy, 25. Mai 1780.)
Ein Augenzeuge dieses Ereignisses sagte: „Ich konnte mich des Gedankens nicht
erwehren, daß, wenn alle leuchtenden Himmelskörper in solch undurchdringliche
Finsternis gehüllt oder gänzlich aus dem Dasein entschwunden wären, die
Finsternis nicht vollständiger sein könnte.“ (Samml. d. Geschichtl. Ges. in
Mass., 1. Serie, 1. Bd., S. 97.) Obgleich um neun Uhr abends der Mond voll
aufging, „vermochte er nicht im geringsten den todesähnlichen Schatten zu
zerteilen.“ Nach Mitternacht verschwand die Finsternis, und als der Mond
zuerst sichtbar wurde, hatte er das Aussehen von Blut.
Der
19. Mai 1780 steht in der Geschichte verzeichnet als „der finstere Tag.“
Seit Moses Zeit ist keine Finsternis von gleicher Dichtigkeit, Ausdehnung und
Dauer je verzeichnet worden. Die Beschreibung dieses Ereignisses, wie sie der
Augenzeuge gibt, ist nur ein Widerhall der Worte des Herrn, wie sie der Prophet
Joel 2500 Jahre vor ihrer Erfüllung berichtet: „Die Sonne soll in Finsternis
und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag
des Herrn kommt.“ (Joel 3, 4.)
Christus hatte seinem Volk geboten, auf die Zeichen seiner Wiederkunft zu
achten und sich zu freuen, wenn es die Vorläufer seines kommenden Königs sehen
würde. Seine Worte lauteten: „Wenn aber dies anfängt zu geschehen, so sehet
auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht.“ Er machte
seine Nachfolger auf die knospenden Bäume des Frühlings aufmerksam und sagte:
„Wenn sie jetzt ausschlagen, so sehet ihr’s an ihnen und merket, daß jetzt
der Sommer nahe ist. Also auch ihr: wenn ihr dies alles sehet angehen, so
wisset, daß das Reich Gottes nahe ist.“
(Luk. 21, 28. 30. 31.)
Doch als der Geist der Demut und Frömmigkeit in der Kirche dem Stolz und dem Formenwesen Platz gemacht hatte, waren die Liebe zu Christo und der Glaube an seine Zukunft erkaltet. Das bekenntliche Volk Gottes, von Weltlichkeit und Vergnügungssucht in Anspruch genommen, wurde blind für die Lehren des Heilandes betreffs der Zeichen seiner Erscheinung. Die Lehre von der Wiederkunft Christi war vernachlässigt, die darauf bezüglichen Schriftstellen waren durch falsche Auslegung verdunkelt worden, bis sie vielfach übersehen und vergessen wurden. Ganz besonders war dies der Fall in den Kirchen Amerikas. Die Freiheit und Bequemlichkeit, deren sich alle Klassen der Gesellschaft erfreuten, das ehrgeizige Verlangen nach Reichtum und Überfluß, das eine verzehrende Sucht des Gelderwerbs hervorrief, das begierige Streben nach Volkstümlichkeit und Macht, welche in dem Bereich aller zu liegen schienen, verleiteten die Menschen, ihre Zuneigungen und Hoffnungen auf die Dinge dieses Lebens zu richten und jenen feierlichen Tag, an dem der gegenwärtige Lauf der Dinge vergehen würde, weit in die Zukunft hinauszuschieben.
Als der Heiland seine Nachfolger auf die Zeichen seiner Wiederkunft verwies,
weissagte er ihnen den Zustand des Abfalls, der unmittelbar vor seinem zweiten
Kommen herrschen werde. Da würde sich, gleichwie in den Tagen Noahs, rege Tätigkeit in weltlichen
Unternehmungen und Sucht nach Vergnügen zeigen - Kaufen, Verkaufen, Pflanzen,
Bauen, Freien und sich freien lassen wobei Gott und das zukünftige Leben
vergessen würden. Denen, welche zu dieser Zeit leben, gilt Christi Ermahnung:
„Hütet euch aber, daß eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und
Saufen und mit Sorgen der Nahrung und komme dieser Tag schnell über euch.“
„So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu
entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen
Sohn.“ (Luk. 21, 34. 36.)
Der
Zustand der Kirche zu dieser Zeit wird in den Worten des Heilandes in der
Offenbarung geschildert: „Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot.“
Und an jene, welche sich weigern, aus ihrer gleichgültigen Sicherheit sich
aufzuraffen, wird die feierliche Warnung gerichtet: „So du nicht wirst wachen,
werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde
ich über dich kommen werde.“ (Offb. 3, 1. 3.)
Die Menschen mußten auf ihre Gefahr aufmerksam gemacht werden, sie mußten
aufgeweckt werden, damit sie sich auf die feierlichen, mit dem Ablauf der
Gnadenzeit in Verbindung stehenden Ereignisse vorbereiten könnten.
Der Prophet Gottes erklärt: „Der Tag des Herrn ist groß und sehr
erschrecklich: wer kann ihn leiden?“ (Joel 2, 11.) Wer wird bestehen, wenn der
erscheint, von dem es heißt: „Deine Augen sind rein, daß du Übles nicht
sehen magst, und dem Jammer kannst du nicht zusehen“? (Hab. 1, 13.) Denen, die
rufen: „Du bist mein Gott; wir... kennen dich“ und seinen Bund übertreten
und einem anderen Gott nacheilen, die Gesetzlosigkeit in ihren Herzen herbergen
und die Pfade der Ungerechtigkeit lieben, denen wird des Herrn Tag „finster
und nicht licht sein, dunkel und nicht hell.“ (Hos . 8, 2. L; Ps. 16, 4; Amos
5, 20 .) „Zur selben Zeit,“ spricht der Herr, „will ich Jerusalem mit
Leuchten durchsuchen und will heimsuchen die Leute die auf ihren Hefen liegen
und sprechen in ihrem Herzen: Der Herr wird weder Gutes noch Böses tun.“
(Zeph. 1, 12.) „Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und
die Gottlosen um ihrer Untugend willen und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende
machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen.“ „Es wird sie ihr Silber
und Gold nicht erretten können am Tage des Zorns des Herrn, und ihre Güter
sollen zum Raub werden und ihre Häuser zur Wüste.“ (Jes. 13, 11; Zeph. 1,
18. 13.)
Der
Prophet Jeremia ruft im Hinblick auf diese schreckliche Zeit: „Wie ist mir so
herzlich weh! ... und habe keine Ruhe; denn meine Seele hört der Posaune Hall
und eine Feldschlacht und einen Mordschrei über den andern.“ (Jer. 4, 19.
20.)
„Dieser Tag ist ein Tag des Grimmes, ein Tag der Trübsal und Angst, ein Tag des Wetters und Ungestüms, ein Tag der Finsternis und Dunkels, ein Tag der Wolken und Nebel, ein Tag der Posaune und Drommete.“ „Denn siehe, des Herrn Tag kommt,... das Land zu zerstören und die Sünder daraus zu vertilgen.“ (Zeph. 1, 15. 16; Jes. 13, 9.)
Im Hinblick auf jenen großen Tag fordert Gottes Wort in der feierlichsten
und eindrucksvollsten Sprache sein Volk auf, die geistliche Schlafsucht abzuschütteln
und sein Angesicht in Reue und Demut zu suchen:
„Blaset mit der Posaune zu Zion, rufet auf meinem heiligen Berge; Erzittert,
alle Einwohner im Lande! Denn der Tag des Herrn kommt und ist nahe.“
„Heiliget ein Fasten, rufet die Gemeinde zusammen! Versammelt das Volk,
heiliget die Gemeinde, sammelt die Ältesten, bringet zuhauf die jungen Kinder!
... Der Bräutigam gehe aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Gemach. Laßt
die Priester, des Herrn Diener, weinen zwischen Halle und Altar.“ „Bekehret
euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißet
eure Herzen und nicht eure Kleider, und bekehret euch zu dem Herrn, eurem Gott;
denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte.“ (Joel 2, 1.
15–17.12.13.)
Um ein Volk vorzubereiten, das am Tage des Herrn bestehen würde, mußte ein großes Reformationswerk verrichtet werden. Gott sah, daß viele seines bekenntlichen Volkes nicht für die Ewigkeit lebten, und in seiner Barmherzigkeit wollte er ihnen eine Warnungsbotschaft senden, um sie aus ihrem Stumpfsinn aufzurütteln und sie zu veranlassen, sich auf die Zukunft des Herrn vorzubereiten.
Diese Warnung ist in Offenbarung 14 verzeichnet. Hier wird die dreifache
Botschaft als von himmlischen Wesen verkündigt vorgeführt, der unmittelbar das
Kommen des Menschensohnes folgt, um die Ernte der Erde einzubringen.
Die erste dieser Warnungen kündigt das nahende Gericht an. Der Prophet sah
einen Engel fliegen „mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium
zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern
und Sprachen und Völkern, und sprach mit großer Stimme: „Fürchtet Gott und
gebet ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen! Und betet an
den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserbrunnen.“ (Offb.
14, 6. 7.)
Diese
Botschaft wird ein Teil des „ewigen Evangeliums“ genannt. Das Predigen des
Evangeliums ist nicht Engeln, sondern Menschen anvertraut worden. Wohl sind
heilige Engel beauftragt worden, dies Werk zu leiten; sie lenken die großen
Bewegungen zum Heil der Menschen; aber die tatsächliche Verkündigung des
Evangeliums wird von Christi Knechten auf Erden ausgerichtet.
Treue
Männer, welche den Eingebungen des Geistes Gottes und den Lehren seines Wortes
gehorsam waren, sollten der Welt diese Warnung verkündigen. Sie hatten geachtet
auf das feste prophetische Wort, jenes „Licht, das da scheint in einem dunkeln
Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe.“ (2. Petr. 1, 19.) Sie
hatten die Erkenntnis Gottes mehr als alle verborgenen Schätze gesucht und
erachteten sie „besser zu erwerben als Silber; und ihr Ertrag ist besser als
Gold.“ (Spr. 3, 14.) Und der Herr offenbarte ihnen die großen Dinge seines
Reiches. „Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die ihn fürchten; und
seinen Bund läßt er sie wissen.“ (Ps. 25, 14 .)
Es waren nicht die gelehrten Theologen, die ein Verständnis dieser Wahrheit
hatten und sich mit ihrer Verkündigung befaßten. Wären sie treue Wächter
gewesen, welche die Schrift fleißig und unter Gebet erforscht hätten, so würden
sie die Zeit der Nacht erkannt haben, und die Weissagungen hätten ihnen die
Ereignisse erschlossen, die unmittelbar bevorstanden. Diese Stellung nahmen sie
jedoch nicht ein, und die Botschaft wurde einfacheren Männern übertragen.
Jesus sagte: „Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, daß euch die Finsternis
nicht überfalle.“ (Joh. 12, 35.) Wer sich von dem von Gott verliehenen Licht
abwendet oder es versäumt, es sich anzueignen, wenn es in seiner Reichweite
liegt, wird in Finsternis gelassen. Aber der Heiland erklärt: „Wer mir
nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des
Lebens haben.“ (Joh. 8, 12.) Wer auch immer einzig und allein danach trachtet,
Gottes Willen zu tun und ernstlich auf das bereits empfangene Licht achtet, wird
größeres Licht erhalten; ihr wird ein Stern himmlischen Glanzes gesandt
werden, um sie in alle Wahrheit zu leiten.
Zur
Zeit des ersten Kommens Christi hätten die Priester und die Schriftgelehrten in
der heiligen Stadt, denen das lebendige Wort Gottes anvertraut worden war, die
Zeichen der Zeit erkennen und die Ankunft des Verheißenen verkündigen können.
Die Weissagung Michas gab den Geburtsort an; Daniel stellte die Zeit seines
Kommens fest. (Micha 5, 1; Dan. 9, 25.) Gott hatte diese Weissagungen den Ältesten
der Juden anvertraut; es gab für sie keine Entschuldigung, wenn sie es nicht wußten
und dem Volke nicht verkündigten, daß die Ankunft des Messias vor der Tür
stehe. Ihre Unwissenheit war die Folge sündhafter Nachlässigkeit. Die Juden
bauten Denkmäler für die erschlagenen Propheten Gottes, während sie durch
ihre Ehrerbietigkeit gegen die Großen der Erde den Knechten Satans Huldigung
darbrachten. Gänzlich von ihrem ehrgeizigen Streben um Stellung und Macht unter
den Menschen in Anspruch genommen, hatten sie die ihnen von dem König des
Himmels angebotenen göttlichen Ehren aus den Augen verloren.
Mit tiefem und ehrfurchtsvollem Interesse hätten die Ältesten Israels den
Ort, die Zeit, die Umstände des größten Ereignisses in der Weltgeschichte -
die Ankunft des Sohnes Gottes zur Erlösung der Menschen - erforschen sollen.
Alle Menschen hätten wachen und harren sollen, um unter den ersten zu sein, den
Erlöser der Welt zu begrüßen. Doch siehe, in Bethlehem ziehen zwei müde
Reisende von den Hügeln Nazareths die ganze Länge der engen Straße entlang
bis zum östlichen Ende der Stadt und spähen vergebens nach einer Ruhe- und
Obdachstätte für die Nacht. Keine Tür steht ihnen offen. In einem elenden
Schuppen, der für das Vieh hergerichtet war, finden sie schließlich
Unterkunft, und hier wird der Heiland der Welt geboren.
Die
Engel hatten die Herrlichkeit gesehen, welche der Sohn Gottes mit dem Vater
teilte, ehe die Welt war, und sie hatten mit lebhaftem Anteil seiner Erscheinung
auf Erden entgegengesehen als dem freudevollsten Ereignis für alle Völker.
Es wurden Engel bestimmt, die frohe Botschaft denen zu bringen, die auf ihren
Empfang vorbereitet waren, und die sie mit Freuden den Bewohnern der Erde
bekanntmachen würden. Christus hatte sich erniedrigt, die menschliche Natur
anzunehmen; er sollte ein unendliches Maß voll Leiden tragen, wenn er sein
Leben als Opfer für die Sünde darbringen würde; und doch wünschten die
Engel, daß der Sohn des Allerhöchsten selbst in seiner Erniedrigung mit einer
seinem Charakter entsprechenden Würde und Herrlichkeit vor den Menschen
erscheinen möchte. Würden die Großen der Erde sich in der Hauptstadt Israels
versammeln, um sein Kommen zu begrüßen? Würden Legionen Engel ihn der
harrenden Menge vorführen?
Ein
Engel besucht die Erde, um zu sehen, wer vorbereitet ist, Jesum willkommen zu
heißen. Aber er kann keine Zeichen der Erwartung erkennen. Er hört keine
Stimme des Lobes und des Siegesjubels, daß die Zeit der Ankunft des Messias da
sei. Der Engel schwebt eine Zeitlang über der auserwählten Stadt und dem
Tempel, wo sich jahrhundertelang die göttliche Gegenwart offenbart hat; doch
auch hier herrscht dieselbe Gleichgültigkeit. Die Priester in ihrem Gepränge
und Stolz bringen unreine Opfer im Tempel dar. Die Pharisäer wenden sich mit
lauter Stimme an das Volk oder verrichten prahlerische Gebete an den Ecken der
Straßen. In den Palästen der Könige, in den Versammlungen der Philosophen, in
den Schulen der Rabbiner achtet gleichfalls keiner auf die wunderbare Tatsache,
welche den ganzen Himmel mit Lob und Freude erfüllt, daß der Erlöser der
Menschen im Begriffe stehe, auf Erden zu erscheinen.
Nirgends zeigt sich ein Beweis, daß Christus erwartet wird, daß
Vorbereitungen für den Fürsten des Lebens getroffen werden. Erstaunt will der
himmlische Bote mit der schmählichen Kunde wieder gen Himmel zurückkehren, als
er einige Hirten entdeckt, welche ihre Herden bei Nacht bewachen und, zum
sternbesäten Himmel aufblickend, über die Weissagung eines Messias, der zur
Erde kommen soll, nachdenken und sich nach der Ankunft des Welterlösers sehnen.
Hier sind Leute, die auf den Empfang der himmlischen Botschaft vorbereitet sind.
Und plötzlich erscheint der Engel des Herrn und verkündigt die frohe
Botschaft. Die ganze Ebene wird von himmlischer Herrlichkeit überflutet, eine
unzählbare Schar von Engeln wird sichtbar und, als ob die Freude zu groß sei,
von einem Boten vom Himmel gebracht zu werden, heben eine Menge Stimmen den
Gesang an, den dereinst alle Erlösten singen werden: „Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14.)
0 welch eine Lehre birgt diese wunderbare Geschichte von Bethlehem! Wie straft sie unsern Unglauben, unsern Stolz und Eigendünkel! Wie warnt sie uns, auf der Hut zu sein, auf daß wir durch unsere Gleichgültigkeit nicht auch verfehlen, die Zeichen der Zeit zu verstehen und dadurch den Tag unserer Heimsuchung zu erkennen!
Nicht
nur auf den Höhen Judäas, nicht allein unter den geringen Hirten fanden die
Engel Seelen, welche der Ankunft des Messias entgegensahen. Im Heidenland waren
ebenfalls etliche, die seiner harrten; dies waren weise, reiche und edle Männer:
Philosophen des Ostens, Naturforscher und Magier hatten Gott in seiner Hände
Werk erkannt. Aus den Hebräischen Schriften hatten sie von dem Stern gelernt,
der aus Jakob aufgehen sollte, und mit begierigem Verlangen warteten sie seines
Kommens; der nicht nur der „Trost Israels“, sondern auch ein „Licht zu
erleuchten die Heiden“, das Heil „bis ans Ende der Erde“ sein sollte.
(Luk. 2, 25. 32; Apg. 13, 47.) Sie suchten nach Licht, und das Licht von dem
Throne Gottes erleuchtete den Pfad ihrer Füße. Während die Priester und Schriftgelehrten Jerusalems, die verordneten Hüter
und Erklärer der Wahrheit, in Finsternis gehüllt waren, leitete der vom Himmel
gesandte Stern diese heidnischen Fremdlinge zu der Geburtsstätte des
neugeborenen Königs.
„Denen, die auf ihn warten,“ wird Christus „zum andernmal ohne Sünde erscheinen... zur Seligkeit.“ (Hebr. 9, 28.) Gleich der Kunde von der Geburt des Heilandes wurde auch die Botschaft von seiner Wiederkunft nicht den Leitern des religiösen Volkes anvertraut. Sie hatten es verfehlt, ihre Verbindung mit Gott zu bewahren und hatten das Licht vom Himmel von sich gewiesen; darum gehörten sie nicht zu der Zahl, zu der der Apostel Paulus sagt: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife. Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.“ (l. Thess. 5, 4. 5.)
Die
Wächter auf den Mauern Zions hätten die ersten sein sollen, die Botschaft von
der Ankunft des Heilandes zu vernehmen; die ersten, ihre Stimmen zu erheben, um
seine Nähe zu verkündigen; die ersten, das Volk zu warnen, sich auf sein
Kommen vorzubereiten. Aber sie ließen es sich wohl sein, träumten von Frieden
und Sicherheit, während das Volk in seinen Sünden schlief. Jesus sah seine
Gemeinde, dem unfruchtbaren Feigenbaum gleich im Schmuck der Blätter prangend,
doch ohne köstliche Frucht. Prahlerisch beobachtete man die religiösen Formen,
wogegen der Geist wahrer Demut, der Reue und des Glaubens, die allein den Dienst
angenehm vor Gott machen konnten, fehlten. Anstatt der Früchte des Geistes
bekundeten sich Stolz, Formenwesen, Ruhmredigkeit, Selbstsucht, Unterdrückung. Eine
von Gott abgewichene Kirche verschloß den Zeichen der Zeit ihre Augen. Gott
verließ sie nicht, ließ es auch nicht an seiner Treue fehlen; aber sie fiel
von ihm ab und trennte sich von seiner Liebe. Da sie sich weigerte, den
Bedingungen nachzukommen, gingen auch seine ihr gegebenen Verheißungen nicht in
Erfüllung.
Das ist die sichere Folge, wenn man versäumt, das Licht und die Vorrechte, welche Gott schenkt, anzuerkennen und auszunutzen. Wenn die Gemeinde nicht den Weg verfolgt, den seine Vorsehung vor ihr auftut, einen jeglichen Lichtstrahl annimmt und jede ihr gezeigte Pflicht auf sich nimmt, wird die Religion unausbleiblich in einen Formendienst ausarten, und der Geist der lebendigen Gottseligkeit wird verschwinden. Diese Wahrheit hat die Geschichte der Kirche wiederholt veranschaulicht. Gott verlangt von seinem Volk Werke des Glaubens und des Gehorsams, den verliehenen Segnungen und Vorrechten entsprechend. Der Gehorsam verlangt ein Opfer und schließt ein Kreuz ein, und deshalb weigern sich auch so viele bekenntliche Nachfolger Christi, das Licht vom Himmel anzunehmen, und erkennen, gleich den Juden vor alters nicht die Zeit, darin sie heimgesucht werden. (Luk. 19, 44.) Ihres Stolzes und Unglaubens willen ging der Herr an ihnen vorüber und offenbarte seine Wahrheit denen, die, wie die Hirten Bethlehems und die Weisen aus dem Morgenland, alles Licht, das ihnen verliehen worden war, beachtet hatten.