16 So viele Menschen wurden verfolgt, weil
sie Gott anders dienen wollten, als es üblich war in ihrem Land. So flohen sie,
verließen Freunde und Heimat, und wanderten aus, um einen Zufluchtsort zu
finden, wo sie Gott in Freiheit anbeten durften.
Welches war die erste Regierung in der Geschichte, die das Recht der
religiösen Freiheit hochhielt? Auf Rhode Island in Amerika gründete Roger
Williams den ersten Staat, dessen zivile Verwaltung auf der Basis von völliger
Gewissensfreiheit beruht. Diese Grundsätze wurden zu den Ecksteinen der
amerikanischen Republik.
Die englischen Reformatoren hatten, während sie
den Lehren des Romanismus entsagten, viele seiner Formen beibehalten. Auf diese
Weise wurden, wenn auch der Anspruch und das Glaubensbekenntnis Roms verworfen
war, dem Gottesdienst der Kirche Englands viele seiner Gebräuche und Formen
einverleibt. Man behauptete, daß diese
Dinge keine Gewissenssachen seien, weil sie in der Heiligen Schrift nicht
geboten, deshalb auch nicht wesentlich, und weil sie nicht verboten, auch
eigentlich nicht unrecht seien. Ihre Beobachtung diene dazu, die Kluft, welche
die protestantischen Kirchen von Rom trenne, geringer zu machen; und man betonte, daß sie die Annahme des protestantischen Glaubens seitens der Anhänger
Roms erleichtern würde.
Den am Bestehenden Haftenden und den zur
Verträglichkeit geneigten schienen die Gründe folgerichtig zu sein. Es gab
jedoch noch eine andere Klasse, die nicht so urteilte. Die Tatsache, daß diese Gebräuche „dahin zielten, die Kluft zwischen
Rom und der Reformation zu überbrücken,“ (Martyn, 5. Bd., S. 22.) war in ihren
Augen ein endgültiger Beweisgrund gegen ihre Beibehaltung. Sie sahen sie als
Abzeichen der Sklaverei an, von welcher sie befreit worden waren, und zu
welcher sie nicht zurückkehren wollten. Sie waren der Ansicht, daß Gott die
Verordnungen zu seiner Verehrung in seinem Worte niedergelegt habe, und daß es
den Menschen nicht freistehe, dazu hinzuzufügen oder davon wegzunehmen. Der
allererste Anfang des großen Abfalls bestand darin, daß man suchte, die
Autorität Gottes durch die der Kirche zu ergänzen. Rom fing an zu verordnen,
was Gott nicht verboten hatte, und kam schließlich dahin, das zu verbieten, was
Gott ausdrücklich befohlen hatte.
Viele wünschten ernstlich zu der Reinheit und
Einfachheit zurückzukehren, welche die erste Gemeinde kennzeichnete. Sie
betrachteten viele der in der englischen Kirche eingeführten Gebräuche als
Denkmäler des Götzendienstes und konnten sich nicht mit gutem Gewissen an ihrem
Gottesdienst beteiligen. Die Kirche jedoch, unterstützt von der staatlichen
Macht, gestattete keine Abweichung von ihren Formen. Der Besuch ihrer
Gottesdienste wurde von dem Gesetz verlangt, und unerlaubte religiöse
Versammlungen waren bei Verbannung und Todesstrafe untersagt.
Am Anfang des 17. Jahrhunderts erklärte sich der
soeben zum Thron gelangte König von England entschlossen, die Puritaner zu
zwingen, sich „entweder den anderen anzupassen, oder er würde sie aus dem Lande
hinaushetzen oder ihnen noch Schlimmeres tun.“ (Pancroft, Gesch. d. Ver. St.,
1. Teil, 12. Kap., 6. Abschn.) Gejagt, verfolgt und eingekerkert konnten sie in
der Zukunft keine Hoffnung auf bessere Tage erspähen, und viele wurden
überzeugt, daß für solche, welche Gott der Stimme ihres eigenen Gewissens gemäß
dienen wollten, „England für immer aufgehört habe, ein bewohnbares Land zu
sein.“ (Palfrey, Gesch. Neuenglands, 3. Kap., 43. Abschn.) Etliche entschlossen
sich zuletzt, in Holland Zuflucht zu suchen. Sie mußten Schwierigkeiten, Verluste
und Gefängnis erleiden; ihre Absichten wurden durchkreuzt, und sie selbst in
die Hände ihrer Feinde verraten; aber die standhafte Ausdauer siegte
schließlich und sie fanden Unterkunft an der freundschaftlichen Küste der
holländischen Republik.
Durch die Flucht hatten sie ihre Häuser, ihre Güter und ihren
Lebensunterhalt verloren; sie waren Fremdlinge in einem fremden Land, unter
einem Volk von anderer Sprache und anderen Sitten. Sie waren genötigt, neue und
ungewohnte Beschäftigungen zu ergreifen, um ihr Brot zu verdienen. Männer von
mittlerem Alter, die ihr Leben mit Ackerbau zugebracht hatten, mußten nun dies
oder jenes Handwerk erlernen. Aber freudig fügten sie sich in jede Lage und
verloren keine Zeit durch Müßiggang oder Unzufriedenheit.
Oft mit Armut kämpfend, lobten sie doch Gott für die Segnungen, die er ihnen
gewährte, und fanden ihre Freude in der unbelästigten geistlichen Gemeinschaft.
„Sie wußten, daß sie Pilger waren und schauten nicht viel auf irdische Dinge,
sondern hoben ihre Augen auf gen Himmel, ihr liebstes Heimatland, und
beruhigten ihr Gemüt. (Bancroft, 1.
T., 12. Kap., 15. Abschn.)
In Verbannung und Ungemach erstarkte ihre Liebe und ihr Glaube. Sie vertrauten auf die Verheißungen Gottes, und er verließ sie nicht in Zeiten der Not. Seine Engel standen ihnen zur Seite, um sie zu ermutigen und zu unterstützen. Und als Gottes Hand sie übers Meer zu weisen schien nach einem Lande, wo sie für sich selbst einen Staat gründen und ihren Kindern das kostbare Erbe religiöser Freiheit hinterlassen konnten, folgten sie ohne Zagen dem Pfad der Vorsehung.
Gott hatte Prüfungen über sein Volk kommen lassen,
um es auf die Erfüllung seiner Gnadenabsichten für die Seinen vorzubereiten.
Die Gemeinde war erniedrigt worden, auf daß sie erhöht werde. Gott war im
Begriff, seine Macht zu ihren Gunsten zu entfalten und der Welt aufs neue einen
Beweis zu geben, daß er die nicht verlassen will, die ihm vertrauen. Er hatte
die Ereignisse so gelenkt, daß der Zorn Satans und die Anschläge böser Menschen
seine Ehre fördern und sein Volk an einen Ort der Sicherheit bringen mußten.
Verfolgung und Verbannung bahnten den Weg zur Freiheit.
Als sich die Puritaner zuerst gezwungen fühlten,
sich von der englischen Kirche zu trennen, schlossen sie unter sich einen
feierlichen Bund, als freies Volk des Herrn in „allen seinen Wegen, die ihnen
bekannt waren oder noch bekannt gemacht würden, gemeinsam zu wandeln.“ (Brown,
Pilgerväter, S. 74.) Dies war der wahre Geist der Freiheit, die lebendige
Grundlage des Protestantismus. Mit diesem Vorsatz verließen die Pilger Holland,
um in der neuen Welt eine Heimat zu suchen. John Robinson, ihr Prediger, der
verhindert war, sie zu begleiten, sagte in seiner Abschiedsrede an die
Verbannten:
„Geschwister, wir werden nun voneinander gehen,
und der Herr weiß, ob ich leben werde, um je eure Angesichter wiederzusehen.
Wie der Herr es aber verfügt, ich befehle euch vor Gott und seinen heiligen
Engeln,. mir nicht weiter zu folgen, als ich Christo gefolgt bin. Falls Gott
euch durch ein anderes Werkzeug irgend etwas offenbaren sollte, so seid ebenso
bereit es anzunehmen, wie zur Zeit, da ihr die Wahrheit durch mein Predigtamt
annahmt; denn ich bin sehr zuversichtlich, daß der Herr noch mehr Wahrheit und
Licht aus seinem heiligen Wort hervorbrechen lassen wird.“ (Martyn, 5. Bd., S.
70 f.)
„Was mich anbetrifft, so kann ich den Zustand der reformierten Kirchen
nicht genug beklagen, die in der Religion bis zu einer gewissen Stufe gelangt
sind und nicht weitergehen wollen als die Werkzeuge ihrer Reformation gegangen
sind. Die Lutheraner können nicht veranlaßt werden, weiterzugehen als das, was
Luther sah; ... und die Kalvinisten, seht ihr, bleiben da stecken, wo sie von
jenem großen Gottesmann, der noch nicht alle Dinge sah, gelassen wurden. Dies ist ein sehr beklagenswertes Elend;
denn wenn jene Männer auch in ihrer Zeit brennende und scheinende Lichter waren, so erfaßten sie doch nicht alle Ratschläge
Gottes; sie würden aber, wenn
sie jetzt lebten, ebenso bereit sein, weiteres Licht anzunehmen, wie sie damals
waren, das erste zu empfangen.“ (Neal, Gesch. d. Puritaner, 1. Bd., S. 269.)
„Gedenkt eures Gemeindegelöbnisses, in welchem ihr
euch verpflichtet habt, in allen Wegen des Herrn zu wandeln, wie sie euch
bekannt geworden sind oder noch bekannt werden. Denkt an euer Versprechen und
euren Bund mit Gott und miteinander, jegliches Licht und alle Wahrheit, so euch
noch aus seinem geschriebenen Worte kundgetan werden soll, anzunehmen. Dennoch
habt acht, ich bitte euch, was ihr als Wahrheit annehmt; vergleicht es, wägt es
mit andern Schriftstellen der Wahrheit, ehe ihr es annehmt, denn es ist nicht
möglich, daß die christliche Welt so spät aus solch einer dichten
antichristlichen Finsternis herauskomme und ihr dann auf einmal die vollkommene
Erkenntnis aufgehe.“ (Martyn, ebd.)
Es war das Verlangen nach Gewissensfreiheit, welches die Pilger
begeisterte, den Schwierigkeiten der langen Reise über das Meer mit Mut
entgegenzutreten, die Beschwerden und die Gefahren der Wildnis zu erdulden und
unter Gottes Segen an der Küste Amerikas den Grund zu einer mächtigen Nation zu
legen. Doch konnten die Pilger, so aufrichtig und gottesfürchtig sie auch
waren, noch nicht den großen Grundsatz religiöser Duldung begreifen. Die Freiheit, die für sich zu erwerben
sie so viel geopfert hatten, gewährten sie andern nicht bereitwillig in
gleichem Maße. „Sehr wenige selbst der hervorragendsten Denker und Sittenlehrer
des 17. Jahrhunderts hatten einen richtigen Begriff von jenem herrlichen, dem
Neuen Testament entstammenden Grundsatz, der Gott als den einzigen Richter des
menschlichen Glaubens anerkennt.“ (Martyn, S. 297.) Die Lehre, daß Gott der
Gemeinde das Recht, die Gewissen zu beherrschen und Ketzerei zu bezeichnen und
zu strafen, verliehen habe, ist ein päpstlicher Irrtum, der sehr tief eingewurzelt
ist. Während die Reformatoren das Glaubensbekenntnis Roms verwarfen, waren sie
nicht gänzlich frei von seinem Geist der Unduldsamkeit. Die dichte Finsternis,
worein während der langen Zeit seiner Herrschaft das Papsttum die gesamte
Christenheit gehüllt hatte, war selbst jetzt noch nicht gänzlich gewichen.
Einer der leitenden Prediger in der Ansiedlung der Massachusetts-Bai sagte:
„Duldung machte die Welt antichristlich; und die Kirche hat sich durch die
Bestrafung der Ketzer nie Schaden zugezogen. “ (Ebd., S. 335.) Die Verordnung
wurde in den Kolonien eingeführt, daß in der bürgerlichen Regierung nur
Kirchenglieder eine Stimme haben sollten. Es wurde eine Art Staatskirche
gegründet; jedermann mußte zum Unterhalt der Geistlichkeit beitragen, und die
Behörden wurden beauftragt, die Ketzerei zu unterdrücken. Somit war die weltliche Macht in den Händen der Kirche. Es dauerte
nicht lange, bis diese Maßnahmen zu der unausbleiblichen Folge - Verfolgung -
führten.
Elf Jahre nach der Gründung der ersten Kolonie kam Roger Williams nach der
Neuen Welt. Gleich den früheren Pilgervätern kam er, um sich der
Religionsfreiheit zu erfreuen; aber unterschiedlich von ihnen sah er - was so
wenige seiner Zeit noch gesehen hatten -, daß diese Freiheit das unveräußerliche
Recht aller war, wie ihr Glaubensbekenntnis auch lauten mochte. Er war ein ernster Forscher nach Wahrheit
und hielt es mit Robinson für unmöglich, daß alles Licht aus dem Worte Gottes
schon erhalten worden sei. Williams „war der erste Mann im neueren Christentum,
der die bürgerliche Regierung auf die Lehre von der Gewissensfreiheit und der
Gleichberechtigung der Meinungen vor dem Gesetz gründete.“ (Bancroft, 1. T.,
15. Kap., 16. Abschn.) Er erklärte, daß es die Pflicht der Behörde sei,
Verbrechen zu unterdrücken, daß sie aber nie das Gewissen beherrschen dürfe. „Das Volk oder die Behörden,“ sagte er,
„mögen entscheiden, was der Mensch dem Menschen schuldig ist; versuchen sie
aber, einem Menschen seine Pflicht gegen Gott vorzuschreiben, so tun sie, was
nicht ihres Amtes ist, und man kann sich nicht mit Sicherheit auf sie
verlassen; denn es ist klar, daß der Magistrat, wenn er die Macht hat, heute
diese und morgen jene Meinungen oder Bekenntnisse vorschreiben mag, wie es in
England von den verschiedenen Königen und Königinnen und in der römischen
Kirche von etlichen Päpsten und Konzilien getan worden ist, so daß der Glaube
ein Haufen Wirrwarr würde.“ (Martyn, 5. Bd., S. 340.)
Den Gottesdiensten der Staatskirche beizuwohnen wurde unter Geld- und Gefängnisstrafe verlangt. „Williams mißbilligte dies Gesetz, denn es sei die schlimmste Satzung im englischen Gesetzbuch, welche den Besuch der Landeskirche verlange. Leute zu zwingen, sich mit Andersgläubigen zu vereinen, erachtete er als eine offene Verletzung ihrer natürlichen Rechte; Religionsverächter und Unwillige zum öffentlichen Gottesdienst zu schleppen, hieße Heuchelei verlangen. ... ’Niemand sollte zur Anbetung oder zur Unterstützung eines Gottesdienstes gegen seine Zustimmung gezwungen werden.’ -’Was!’ Riefen seine Gegner aus, erstaunt über seine Grundsätze, ’ist nicht der Arbeiter seines Lohnes wert?’ ’Ja,’ erwiderte er, ’von denen, die ihn dingen’“. (Bancroft, ebd., 2. Abschn.)
Roger Williams wurde als ein getreuer Prediger, ein Mann von seltenen
Gaben, von unbeugsamer Rechtschaffenheit und wahrem Wohlwollen geachtet und
geliebt; doch konnte man es nicht vertragen, daß er so entschieden den
bürgerlichen Behörden das Recht absprach, Macht über die Kirche zu haben, und
daß er religiöse Freiheit verlangte. Die Ausführung dieser neuen Lehre, behauptete man, „würde die Grundlage
der Regierung des Landes verkehren.“ (Bancroft, ebd., 10. Abschn.) Er wurde aus
den Kolonien verbannt und sah sich schließlich, um der Verhaftung zu entgehen,
gezwungen, inmitten der Kälte und den Stürmen des Winters in den Urwald zu
fliehen.
„Vierzehn Wochen lang,“ so schrieb er, „mußte ich
mich in der bitteren Jahreszeit herumschlagen, nicht wissend, was Brot oder
Bett heißt. Die Raben speisten mich in der Wüste.“ Ein hohler Baum diente ihm
oft als Obdach. (Martyn, 5. Bd., S. 349 f.) Auf diese Weise setzte er seine
schmerzvolle Flucht durch den Schnee und den pfadlosen Wald fort, bis er
Zuflucht fand bei einem Indianerstamm, dessen Zutrauen und Liebe er gewann,
während er sich bestrebte, ihnen die Wahrheiten des Evangeliums zu predigen.
Nach Monaten wechselvollen Wanderns kam er schließlich nach der Küste der Narragansett-Bai und legte daselbst den Grund des ersten Staates der Neuzeit, welcher im vollsten Sinne das Recht religiöser Freiheit anerkannte. Der Grundsatz, auf welchem die Kolonie des Roger Williams beruhte, war, „daß jedermann das Recht haben sollte, Gott nach den Vorschriften seines eigenen Gewissens zu verehren.“ (s. vorige Anm.) Sein kleiner Staat, Rhode Island, wurde der Zufluchtsort der Unterdrückten, und er nahm zu und gedieh, bis die ihm unterliegenden Grundsätze - bürgerliche und religiöse Freiheit - die Ecksteine der amerikanischen Republik wurden.
In jenem bedeutenden alten Schriftstück, welches
diese Männer als ihre Verfassungsbestimmung - die Unabhängigkeitserklärung -
aufstellten, sagten sie: „Wir halten diese Wahrheiten als selbstverständlich:
daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß ihnen der Schöpfer gewisse,
unveräußerliche Rechte verliehen hat; daß zu diesen Leben, Freiheit und
Erlangung des Glückes gehören. “ Und die
Verfassung sichert in den deutlichsten Ausdrücken die Unverletzlichkeit des
Gewissens zu: „Keine religiöse Prüfung soll
je erforderlich sein zur Bekleidung irgendeines öffentlichen Vertrauenspostens
in den Ver. Staaten.“ „Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das die
Einführung einer Religion bezweckt oder deren freie Ausübung verbietet.“
„Die Verfasser der Konstitution anerkannten den ewigen Grundsatz, daß die Beziehungen des Menschen zu seinem Gott über der menschlichen Gesetzgebung stehen, und daß sein Gewissensrecht unveräußerlich ist. Es waren zur Begründung dieser Wahrheit keine Vernunftschlüsse erforderlich; wir sind uns ihrer in unserem eigenen Herzen bewußt. Dies Bewußtsein ist es, welches, den menschlichen Gesetzen Trotz bietend, so viele Märtyrer in Qualen und Flammen standhaft machte. Sie fühlten, daß ihre Pflicht gegen Gott über menschlichen Verordnungen erhaben sei, und daß der Mensch keine Autorität über ihre Gewissen ausüben könne. Es ist dies, ein angeborener Grundsatz, den nichts auszutilgen vermag. “ (Kongreßurkunden der Ver. St., Serien-Nr. 200, Urk. 271.)
Als sich die Kunde von einem Land, wo jedermann die Frucht seiner eigenen
Arbeit genießen und den Überzeugungen seines eigenen Gewissens folgen könnte,
in den Ländern Europas verbreitete, strömten Tausende nach den Gestaden der
Neuen Welt. Die Kolonien
vermehrten sich rasch. „Massachusetts bot durch eine besondere Verordnung den
Christen jeder Nation, die sich über den Atlantischen Ozean flüchteten, ’um
Kriegen, Hungersnot oder der Unterdrückung ihrer Verfolger zu entgehen,’ eine
freundliche, unentgeltliche Aufnahme und Hilfe an. Somit wurden die Flüchtlinge
und die Niedergetretenen durch gesetzliche Verordnungen Gäste des Staates.“
(Martyn, 5. Bd., S. 417.) In zwanzig Jahren seit der ersten Landung zu Plymouth
hatten sich ebenso viele tausend Pilger in Neuengland niedergelassen.
Um das Erwünschte zu erlangen, „waren sie
zufrieden, sich durch ein enthaltsames und arbeitsames Leben einen kargen
Unterhalt verdienen zu können. Sie verlangten von dem Boden nur einen
leidlichen Ertrag ihrer Arbeit. Keine goldenen Aussichten warfen ihren
trügerischen Schein auf ihren Pfad. ... Sie waren mit dem langsamen aber
beständigen Fortschritt ihres gesellschaftlichen Gemeinwesens zufrieden. Sie
hielten die Entbehrungen der Wildnis geduldig aus, bewässerten den
Freiheitsbaum mit ihren Tränen und mit dem Schweiß ihres Angesichts, bis er
tiefe Wurzel im Lande geschlagen hatte.“
Die Bibel galt als die Grundlage ihres Glaubens, die Quelle der Weisheit und als Freiheitsbrief. Ihre Grundsätze wurden zu Hause, in der Schule und in der Kirche fleißig gelehrt, und ihre Früchte offenbarten sich in Wohlstand, Bildung, sittlicher Reinheit und Enthaltsamkeit. Man konnte jahrelang in den puritanischen Niederlassungen wohnen, ohne „einen Trunkenbold zu sehen, einen Fluch zu hören oder einem Bettler zu begegnen.“ (Bancroft, 1. T., 19. Kap. 25. Abschn.) Der Beweis wurde geliefert, daß die Grundsätze der Bibel die sichersten Schutzmittel der nationalen Größe sind. Die schwachen und abgesonderten Kolonien wuchsen zu einer Verbindung mächtiger Staaten heran, und die Welt nahm mit Bewunderung den Frieden und das Gedeihen „einer Kirche ohne Papst und eines Staates ohne König“ wahr.
Doch beständig sich vermehrende Scharen,
angetrieben von Beweggründen, welche von denen der ersten Pilgerväter weit
verschieden waren, wurden zu den Gestaden Amerikas hingezogen. Obgleich der
einfache Glaube und der lautere Wandel eine weitverbreitete und bildende Macht
ausübten, wurde deren Einfluß doch schwächer und schwächer, als die Zahl derer
wuchs, die nur weltlichen Vorteil suchten.
Die von den ersten Kolonisten angenommene Verordnung, das Stimmrecht und
das Innehalten von Staatsämtern nur Gemeindegliedern zu gestatten, brachte
höchst schädliche Folgen. Diese Maßregel war eingeführt worden als ein Mittel,
die Reinheit des Staates zu bewahren; aber sie wurde der Kirche zum Verderben. Da ein Religionsbekenntnis die Bedingung
war, um das Stimmrecht zu erhalten und zu öffentlichen Ämtern zugelassen zu
werden, schlossen sich viele einzig und allein aus weltlicher Klugheit der
Kirche an, ohne eine Herzensveränderung erfahren zu haben. So kam es, daß die
Kirchen zum großen Teil aus unbekehrten Leuten bestanden, und selbst unter den
Predigern waren solche, die nicht nur irrige Lehren aufstellten, sondern auch
nichts wußten von der erneuernden Kraft des Heiligen Geistes. Auf diese Weise
zeigte es sich wiederum, wie so oft in der Kirchengeschichte seit den Tagen
Konstantins bis auf unsere Zeit, wie verderblich es ist, die Kirche mit Hilfe
des Staates aufbauen zu wollen und die weltliche Macht aufzufordern, das
Evangelium dessen zu unterstützen, der erklärt hat: „Mein Reich ist nicht von
dieser Welt.“ (Joh. 18, 36.) Die
Verbindung der Kirche mit dem Staat, und wäre sie noch so gering, führt,
während sie die Weit näher zur Kirche zu bringen scheint, in Wirklichkeit die
Kirche näher zur Welt.
Der von Robinson und Roger Williams auf so edle Weise verteidigte Grundsatz, daß die Wahrheit fortschreitet, und daß die Christen bereit sein sollten, alles Licht, welches aus Gottes heiligem Wort scheinen mag, anzunehmen, wurde von ihren Nachkommen aus den Augen verloren. Die protestantischen Kirchen Amerikas und auch Europas, die so sehr begünstigt worden waren, die Segnungen der Reformation zu erhalten, drangen auf dem Pfad der Reform nicht vorwärts. Wenn auch von Zeit zu Zeit etliche treue Männer auftraten, um neue Wahrheiten zu verkündigen und lang gehegte Irrtümer bloßzustellen, so war doch die Mehrzahl, wie die Juden in den Tagen Christi oder die Päpstlichen zur Zeit Luthers, damit zufrieden, zu glauben, was ihre Väter geglaubt, und zu leben, wie sie gelebt hatten. Deshalb artete ihre Religion abermals in Formenwesen aus; und Irrtümer und Aberglaube, die verworfen worden wären, falls die Gemeinde fortgefahren hätte, in dem Licht des Wortes Gottes zu wandeln, wurden beibehalten und gepflegt. Auf diese Weise starb der von der Reformation eingeflößte Geist allmählich aus, bis sich in den protestantischen Kirchen ein beinahe ebenso großes Bedürfnis nach einer Reformation einstellte wie in der römischen Kirche zur Zeit Luthers. Es herrschte derselbe Weltsinn, die nämliche geistliche Abgestumpftheit, eine ähnliche Ehrfurcht vor den Ansichten der Menschen und eine Einsetzung menschlicher Theorien an der Stelle der Lehren des Wortes Gottes.
Der weiten Verbreitung der Bibel zu Anfang des 19. Jahrhunderts und dem großen, auf diese Weise über die Welt ergossenem Licht folgte kein entsprechender Fortschritt in der Erkenntnis der offenbarten Wahrheit oder in der Erfahrungsreligion. Satan konnte nicht, wie in früheren Zeiten, das Wort Gottes dem Volke fernhalten, weil es allen erreichbar war; um aber seinen Zweck auszuführen, veranlaßte er viele, es geringzuschätzen. Die Menschen vernachlässigten das Suchen in der Heiligen Schrift und nahmen dadurch beständig falsche Auslegungen an und pflegten Lehren, welche keinen Grund in der Bibel hatten.
Als Satan bemerkte, daß seine Anstrengungen, die
Wahrheit durch Verfolgung zu unterdrücken, fehlschlugen, nahm er wiederum seine
Zuflucht zu dem Ausgleichverfahren, wodurch der große Abfall und die Gründung
der römischen Kirche veranlaßt wurde. Er hatte die Christen verleitet, sich
wenn auch jetzt nicht mit Heiden, so doch mit jenen zu verbinden, welche sich
durch ihre Verehrung der Dinge dieser Welt ebensosehr als wahre Götzendiener
erwiesen hatten wie die Anbeter der Götzenbilder. Die Folgen dieser Verbindung
war jetzt nicht weniger verderblich als in früheren Zeiten: Stolz und
Verschwendung wurden unter dem Gewand der Religion gepflegt und die Kirchen
wurden verderbt. Satan fuhr fort, die Lehren der Bibel zu verdrehen, und die
Überlieferungen, welche Millionen zugrunde richten sollten, faßten tiefe Wurzel.
Die Kirche hielt diese Überlieferungen aufrecht und verteidigte sie, anstatt um
den Glauben, „der einmal den Heiligen übergeben ist,“ zu kämpfen. So wurden die
Grundsätze, für welche die Reformatoren so viel getan und gelitten hatten,
beiseite gesetzt.