10 Karl V. verurteilte Martin Luther zum Tod. Doch dann verschwand dieser
spurlos. Wer hatte ihn entführt - Freunde oder Feinde? Wurde damit die
Reformation gestoppt?
Lesen Sie, wie Gott hier eingegriffen hatte, um Martin Luther vom sicheren Tod zu erretten. Erfahren Sie, was er in der Stille dort tat - wie er ein Werk begann, das heute noch besteht.
Die
römischen Machthaber sahen mit Schrecken, auf welche Höhe die Gefühle gegen
sie gestiegen waren. Obgleich sie erst über den vermeintlichen Tod Luthers
frohlockten, wünschten sie bald, sich vor dem Zorn des Volkes zu verbergen.
Seine Feinde waren durch die kühnsten Handlungen während seines Verweilens
unter ihnen nicht so beunruhigt worden wie durch sein Verschwinden. Die in ihrer
Wut den kühnen Reformator umzubringen suchten, wurden nun, da er ein hilfloser
Gefangener war, mit Furcht erfüllt. „Es bleibt uns nur das Rettungsmittel übrig,“
sagte einer, „daß wir Fackeln anzünden und Luther in der Welt aufsuchen, um
ihn dem Volke, das nach ihm verlangt, wiederzugeben.“ (D'Aubigné, 9. Buch, 1.
Abschn., S. 5, Stuttgart, 1848.) Der Erlaß des Kaisers schien kraftlos zu sein,
und die päpstlichen Gesandten wurden entrüstet, als sie sahen, daß ihm weit
weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Schicksal Luthers.
Die Kunde, daß er, wenngleich ein Gefangener, doch in Sicherheit sei, beruhigte die Befürchtungen des Volkes, steigerte aber auch dessen Begeisterung für ihn. Seine Schriften wurden mit größerer Begierde gelesen als je zuvor. Eine stets wachsende Zahl schloß sich der Sache des heldenmütigen Mannes an, der einer so ungeheuren Überlegenheit gegenüber das Wort Gottes verteidigt hatte. Die Reformation gewann fortwährend an Kraft. Der von Luther gesäte Same ging überall auf. Seine Abwesenheit vollbrachte ein Werk, welches seine Anwesenheit nicht hätte tun können. Andere Arbeiter fühlten jetzt, da ihr großer Anführer verschwunden war, eine ernste Verantwortlichkeit. Mit neuem Glauben und Eifer strebten sie voran, um alles zu tun, was in ihrer Macht stehe, damit das so edel begonnene Werk nicht gehindert werde.
Satan war jedoch auch nicht müßig. Er versuchte nun, was er bei jeder
anderen Reformbewegung zu tun versucht hat - das Volk zu täuschen und zu
verderben, indem er an Stelle des wahren Werkes eine Nachahmung unterschob.
Wie es im ersten Jahrhundert der christlichen Gemeinde falsche Christi gab, so
erhoben sich im 16. Jahrhundert falsche Propheten.
Etliche Männer, durch die Erregung in der religiösen Welt tief ergriffen, bildeten sich ein, besondere Offenbarungen vom Himmel erhalten zu haben und erhoben den Anspruch, göttlich beauftragt worden zu sein, das Werk der Reformation, das von Luther nur schwach begonnen worden sei, zur Vollendung zu bringen. In Wahrheit rissen sie gerade das wieder nieder, was er aufgebaut hatte. Sie verwarfen den Hauptgrundsatz, die wahre Grundlage der Reformation - das Wort Gottes als die allgenugsame Glaubens und Lebensregel, und setzten an Stelle jenes untrüglichen Führers den veränderlichen, unsicheren Maßstab ihrer eigenen Gefühle und Eindrücke. Dadurch wurde der große Prüfstein des Irrtums und des Betrugs beseitigt und Satan der Weg geöffnet, die Gemüter zu beherrschen, wie es ihm am besten gefiel.
Einer
dieser Propheten behauptete, von dem Engel Gabriel unterrichtet worden zu sein.
Ein Student, der sich mit ihm vereinigte, verließ seine Studien und erklärte,
von Gott selbst mit Weisheit ausgerüstet zu sein, die Schrift auszulegen.
Andere, die von Natur zur Schwärmerei geneigt waren, verbanden sich mit ihnen.
Das Vorgehen dieser Schwarmgeister rief keine geringe Aufregung hervor. Luthers
Predigten hatten überall das Volk erweckt, um die Notwendigkeit einer Reform
einzusehen, und nun wurden einige wirklich redliche Seelen durch die
Behauptungen der neuen Propheten irregeleitet.
Die
Anführer der Bewegung begaben sich nach Wittenberg und nötigten Melanchthon
und seinen Mitarbeitern ihre Ansprüche auf. Sie sagten: „Wir sind von Gott
gesandt, das Volk zu unterweisen. Wir haben vertrauliche Gespräche mit Gott und
sehen in die Zukunft; wir sind Apostel und Propheten und berufen uns auf den
Doktor Luther. “ (Ebd., 9. Buch, 7. Abschn., S. 42f.)
Die
Reformatoren waren erstaunt und verlegen. Dies war eine derartige Richtung, wie
sie es nie zuvor angetroffen hatten, und sie wußten nicht, welches Verfahren
dagegen einzuschlagen sei. Melanchthon sagte: „Diese Leute sind ungewöhnliche
Geister, aber was für Geister? ... Wir wollen den Geist nicht dämpfen, aber
uns auch vom Teufel nicht verführen lassen. “ (Ebd.)
Die Früchte dieser neuen Lehre wurden bald offenbar. Das Volk wurde zur
Vernachlässigung oder gänzlichen Verwerfung der Bibel verleitet. Die
Hochschulen wurden in Verwirrung gestürzt. Studierende verließen, sich über
alle Schranken hinwegsetzend, ihre Studien und zogen sich von der Universität
zurück. Die Männer, welche sich selbst als maßgebend betrachteten, das Werk
der Reformation wieder zu beleben und zu leiten, brachten sie bis zum Rande des
Untergangs. Die Römlinge gewannen nun ihr Vertrauen wieder und riefen
frohlockend aus: „Noch ein Versuch,... und alles wird wiedergewonnen.“
(Ebd.)
Als Luther auf der Wartburg hörte, was vorging, sagte er in tiefem Kummer: „Ich habe immer erwartet, daß Satan uns eine solche Wunde versetzen würde.“ (s. vorige Anm.) Er gewahrte den wahren Charakter jener angeblichen Propheten und sah die Gefahr, welche der Sache der Wahrheit drohte. Der Widerstand des Papstes und des Kaisers hatte ihm nicht so große Unruhe und Kummer verursacht, wie er nun durchmachte. Aus den vorgeblichen Freunden der Reformation waren die schlimmsten Feinde erwachsen. Gerade die Wahrheiten, welche ihm so große Freude und Trost gebracht hatten, wurden jetzt benutzt, um Zwiespalt und Verwirrung in der Gemeinde zu stiften.
In
dem Werke der Reformation war Luther vom Geiste Gottes angetrieben und über
sich selbst hinaus geführt worden. Er hatte nicht beabsichtigt, eine Stellung,
wie die seinige jetzt war, einzunehmen oder so gründliche Veränderungen zu
machen. Er war nur das Werkzeug in der Hand der unendlichen Macht Gottes gewesen.
Doch zitterte er oft für die Folgen seines Werkes. Einst hatte er gesagt: „Wüßte
ich, daß meine Lehre einem einfältigen Menschen schadete (und das kann sie
nicht, denn sie ist das Evangelium selbst), so möchte ich eher zehn Tode leiden,
als nicht widerrufen.“ (Ebd. Siehe auch Anhang, Anm. 16.)
Jetzt
fiel aber Wittenberg selbst, der eigentliche Mittelpunkt der Reformation,
schnell unter die Macht des Fanatismus und der Gesetzlosigkeit. Dieser
schreckliche Zustand wurde nicht von Luthers Lehren verursacht, und doch warfen
in ganz Deutschland seine Feinde die Schuld auf ihn. In
der Bitterkeit seiner Seele fragte er zuweilen: „Dahin sollte es mit der
Reformation kommen?“ Wenn er aber mit Gott im Gebet rang, ergoß sich der
Friede in sein Herz: „Gott hat es begonnen, Gott wird es vollenden.“ (s.
vorige Anm.) „Du wirst es nicht dulden, daß es durch Aberglauben und
Fanatismus verderbt wird.“ Doch der Gedanke, sich zu dieser entscheidenden
Zeit länger von dem Schauplatz des Kampfes fernzuhalten, wurde ihm unerträglich;
er entschloß sich, nach Wittenberg zurückzukehren.
Ohne
Verzug trat er seine gefahrvolle Reise an. Er war unter dem Reichsbann. Seinen
Feinden stand es frei, ihm das Leben zu nehmen; seinen Freunden war es untersagt,
ihm zu helfen oder ihn zu beschützen. Die kaiserliche Regierung ergriff die
strengsten Maßregeln gegen seine Anhänger. Aber er sah, daß das
Evangeliumswerk gefährdet war, und im Namen des Herrn ging er furchtlos für
die Wahrheit in den Kampf.
In
einem Schreiben an den Kurfürsten sagte Luther, nachdem er seine Absicht, die
Wartburg zu verlassen, ausgesprochen hatte: „E.K. Gnaden wisse, ich komme gen
Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab‘s
auch nicht im Sinne von E.K. Gnaden Schutz zu begehren; ja ich halt, ich wollte
E.K. Gnaden mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu, wenn ich wüßte,
daß E.K. Gnaden mich könnte und wollte schützen, so wollte ich nicht kommen.
Dieser Sache soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hier
allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum, wer am meisten
glaubt, der wird hier am meisten schützen.“ (Ebd., 9. Buch, 8. Absch., S.
53f).
In
einem zweiten Brief, den er auf dem Wege nach Wittenberg verfaßte, fügte
Luther hinzu: „Ich will E.K. Gnaden Ungunst
und der ganzen Welt Zorn ertragen. Die Wittenberger sind meine Schafe.
Gott hat sie mir anvertraut. Ich muß mich für sie in den Tod begeben. Ich fürchte
in Deutschland einen großen Aufstand, wodurch Gott unser Volk strafen will. (Ebd.)
Mit
großer Vorsicht und Demut, doch fest und entschlossen, trat er sein Werk an.
„Mit dem Worte“, sagte er, „müssen wir streiten, mit dem Worte stürzen,
was die Gewalt eingeführt hat. Ich will keinen Zwang gegen Aber- und Ungläubige.
… Keiner soll zum Glauben und zu dem, was des Glaubens ist, gezwungen werden.“
(s. vorige Anm.) Bald wurde es in Wittenberg bekannt, daß Luther zurückgekehrt sei und
predigen solle. Das Volk strömte aus allen Richtungen herbei, und die Kirche
war überfüllt. Er bestieg die Kanzel und lehrte, ermahnte und strafte mit großer
Weisheit und Zartgefühl. Indem er auf das Verfahren etlicher hinwies,
welche sich der Gewalt bedient hatten, um die Messe abzuschaffen, sagte er:
„Die
Messe ist ein böses Ding, und Gott ist ihr feind; sie muß abgetan werden, und
ich wollte, daß in der ganzen Welt allein die gemeine evangelische Messe
gehalten würde. Doch soll man niemand mit dem Haar davonreißen, denn Gott soll
man hierin die Ehre geben und sein Wort allein wirken lassen, nicht unser Zutun
und Werk. Warum? Ich habe nicht in meiner Hand die Herzen der Menschen, wie der
Hafner den Leimen. Wir haben wohl das Recht der Rede, aber nicht das Recht der
Vollziehung. Das Wort sollen wir predigen, aber die Folge soll allein in seinem
Gefallen sein. So ich nun darein falle, so wird dann aus dem Gezwang oder Gebot
ein Spiegelfechten, ein äußerlich Wesen, ein Affenspiel, aber da ist kein gut
Herz, kein Glaube, keine Liebe. Wo diese drei fehlen, ist ein Werk nichts; ich
wollte nicht einen Birnstiel darauf geben. ... Also wirkt Gott mit seinem Wort
mehr, denn wenn du und ich alle Gewalt auf einen Haufen schmelzen. Also wenn du
das Herz hast, so hast du ihn nun gewonnen. …
„Predigen
will ich‘s, sagen will ich‘s, schreiben will ich‘s; aber zwingen, dringen
mit der Gewalt will ich niemand, denn der Glaube will willig und ohne Zwang
angezogen werden. Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Ablaß und allen
Papisten entgegen gewesen, aber mit keiner Gewalt. Ich
hab allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich
nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe … also viel getan, daß das
Papsttum also schwach geworden ist, daß ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so
viel abgebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles gehandelt und
ausgericht. Wenn ich hätte wollen Ungemach fahren, ich wollte Deutschland in
ein groß Blutvergießen gebracht haben. Aber was wär es? Ein Verderbnis an
Leib und Seele. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort lassen
handeln.“ (Ebd.)
Tag
um Tag, eine ganze Woche lang, predigte Luther der aufmerksam lauschenden Menge.
Das Wort Gottes brach den Bann der fanatischen Aufregung. Die Macht des
Evangeliums brachte das irregeleitete Volk auf den Weg der Wahrheit zurück.
Luther
hatte kein Verlangen, den Schwärmern, deren Verfahren so großes Übel
hervorgebracht hatte, zu begegnen. Er wußte, daß es Männer von erkrankter
Urteilskraft und unbeherrschten Leidenschaften waren, welche, während sie
behaupteten, vom Himmel besonders erleuchtet zu sein, nicht den geringsten
Widerspruch oder auch nur die freundlichste Ermahnung oder einen Rat dulden würden.
Da sie sich selbst die höchste Autorität anmaßten, verlangten sie von einem
jeden, daß er ohne jegliche Frage ihre Ansprüche anerkenne. Als sie aber eine
Unterredung mit ihm verlangten, willigte er ein mit ihnen zusammenzukommen; und
so erfolgreich stellte er ihre Anmaßungen bloß, daß die Betrüger Wittenberg
plötzlich verließen.
Die Schwärmerei war für eine Zeit lang gedämpft, brach aber einige Jahre später mit noch größerer Heftigkeit und schrecklicheren Folgen abermals aus. Luther sagte betreffs der Anführer in dieser Bewegung: „Die Heilige Schrift war für sie nichts als ein toter Buchstabe, und alle schrien: Geist, Geist! Aber wahrlich,, ich gehe nicht mit ihnen, wohin ihr Geist sie führt. Der barmherzige Gott behüte mich ja vor der christlichen Kirche, darin lauter Heilige sind. Ich will da bleiben, wo es Schwache, Niedrige, Kranke gibt, welche ihre Sünden kennen und empfinden, welche unablässig nach Gott seufzen und schreien aus Herzensgrund, um seinen Trost und Beistand zu erlangen.“
Thomas Münzer,
der tätigste dieser Schwärmer, war ein Mann von beträchtlicher Fähigkeit,
welche ihn, wenn richtig geleitet, in den Stand gesetzt haben würde, Gutes zu
tun; er hatte jedoch die ersten Grundsätze wahrer Religion nicht gelernt. Er
bildete sich ein, er sei von Gott verordnet, die Welt zu reformieren, wobei er
gleich vielen anderen Schwärmern vergaß, daß die Reform bei ihm selbst zu
beginnen habe. Er war ehrgeizig, Stellung und Einfluß zu erreichen und nicht
willig, irgend jemanden nachzustehen, auch Luther nicht. Er schuldigte die
Reformatoren an, sie richteten, da sie sich allein an die Bibel hielten, nur
eine andere Art Papsttum auf. Er betrachtete sich selbst als von Gott berufen
die wahre Reformation einzuführen. „Wer diesen Geist besitzt,“ sagte er,
„hat den wirksamen Glauben, und wenn er auch sein Leben lang nichts von der
Heiligen Schrift sähe.“
Die schwärmerischen Lehrer ließen sich von Eindrücken leiten, indem sie jeden Gedanken und jeglichen Antrieb als Stimme Gottes bezeichneten; in Folge dessen begingen sie die größten Übertreibungen. Einige verbrannten sogar ihre Bibeln, wobei sie ausriefen: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Münzers Lehren richteten sich an das dem Menschen angeborene Verlangen nach dem Wunderbaren, während sie ihren Stolz dadurch befriedigten, daß sie menschliche Ideen und Meinungen in der Tat über Gottes Wort erhoben. Tausende nahmen seine Lehre an. Bald verwarf er alle Ordnung im öffentlichen Gottesdienst und erklärte, daß den Fürsten gehorchen so viel heiße, als zu versuchen, Gott und Belial zu dienen.
Die Gemüter
des Volkes, das bereits anfing, das Joch des Papsttums abzuschütteln, wurden
auch ungeduldig unter den Einschränkungen der Staatsgewalt. Münzers revolutionäre
Lehren, für die er göttliche Eingebung beanspruchte, führte sie dahin, sich
von aller Einschränkung loszureißen und ihren Vorurteilen und Leidenschaften Zügel
schießen zu lassen. Die schrecklichsten Auftritte der Empörung und des
Streites folgten, und die Gefilde Deutschlands wurden mit Blut getränkt.
Der
Seelenkampf, welchen Luther so lange zuvor zu Erfurt durchgemacht hatte, stürmte
nun mit verdoppelter Wucht auf ihn ein, als er sah, daß die Folgen der Schwärmerei
der Reformation zur Last gelegt wurden. Die päpstlichen Fürsten erklärten –
und viele standen bereit es zu glauben – daß Luthers Lehre die Ursache der
Empörung gewesen sei. Obwohl die Anschuldigung auch der geringsten Grundlage
entbehrte, mußte sie doch dem Reformator großen Kummer verursachen. Daß die
Sache der Wahrheit auf diese Weise herabgewürdigt werden sollte, indem man sie
zu der niedrigsten Schwärmerei gesellte, schien mehr zu sein, als er
aufzuhalten vermochte. Auf der anderen Seite haßten die Anführer des
Aufstandes Luther, weil er sich nicht nur ihren Lehren widersetzt und ihre Ansprüche
auf göttliche Eingebung verleugnet, sondern sie als Empörer gegen die bürgerliche
Obrigkeit erklärt hatte. In Wiedervergeltung erklärten sie ihn als gemeinen
Betrüger. Er schien sich sowohl die Feinschaft der Fürsten wie die des Volkes
zugezogen zu haben.
Die Römlinge
frohlockten, indem sie erwarteten, den baldigen Untergang der Reformation zu
erblicken. Und sie tadelten Luther sogar für die Irrtümer, die er mit größten
Eifer zu verbessern gesucht hatte. Die schwärmerische Partei bewerkstelligte
es, durch die Behauptung, sie seien mit großer Ungerechtigkeit behandelt
worden, die Zuneigung einer großen Menschenmasse zu gewinnen, und wie das öfters
der Fall ist mit denen, welche sich auf die Seite des Unrechts stellen, wurden
sie als Märtyrer betrachtet. Gerade diejenigen, welche alle Energie aufwandten,
um sich der Reformation zuwidersetzen, wurden auf diese Weise als Opfer der
Grausamkeit und Unterdrückung bemitleidet und gepriesen. Dies war das Werk
Satans, angeregt von demselben Geist der Empörung, der zuerst im Himmel an den
Tag gelegt wurde.
Satan sucht beständig, die Menschen zu hintergehen und verleitet sie, die Sünde Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit Sünde zu nennen. Wie erfolgreich ist sein Werk gewesen! Wie oft werden Tadel und Vorwürfe auf Gottes treue Diener geschleudert, weil sie entschlossen sind, furchtlos für die Verteidigung der Wahrheit aufzutreten! Männer, welche die Werkzeuge Satans sind, werden gepriesen und mit Schmeicheleien überhäuft, ja sogar als Märtyrer angesehen, während diejenigen, welche um ihrer Treue zu Gott willen, geachtet und unterstützt werden sollten, unter Verdacht und Mißtrauen alleine stehen gelassen werden.
Unechte Heiligkeit, gefälschte Heiligung, tun noch immer ihr Werk des Betruges. Unter verschiedenen Formen zeigen sie denselben Geist wie in den Tagen Luthers; sie lenken auch heute noch die Gemüter von der Heiligen Schrift ab und verführen die Menschen dazu, ihren eigenen Gefühlen und Eindrücken zu folgen, eher als dem Gesetz Gottes Gehorsam zu leisten. Dies ist einer der erfolgreichsten Anschläge Satans, um die Unschuld und die Wahrheit mit Vorwürfen zu belasten.
Furchtlos
verteidigte Luther das Evangelium vor den Angriffen, welche von allen Seiten
kamen. Das Wort Gottes bewies sich als mächtige Waffe in jeglichem Streit. Mit
diesem Wort kämpfte er gegen die angemaßte Autorität des Papstes und die
rationalistische Philosophie der Gelehrten, während er fest wie ein Fels der
Schwärmerei widerstand, welche sich mit der Reformation zu verbinden suchte.
Jedes dieser gegnerischen Elemente setzte in seiner eigenen Weise die Heilige Schrift beiseite und erhob die menschliche Weisheit zur Quelle religiöser Wahrheit und Erkenntnis. Der Rationalismus vergöttert die Vernunft und machte sie zum Richter der Religion. Die römische Kirche, indem sie für ihren allerhöchsten Oberpriester eine in ununterbrochener Linie von den Aposteln abstammende und durch alle Zeiten unveränderliche Inspiration beansprucht, gibt für jede Art von Ausschweifung und Verderbnis reichliche Gelegenheit, sich unter dem Deckmantel geheiligter apostolischer Beauftragung verborgen zu halten. Die von Münzer und seinen Gefährten beanspruchte Eingebung ging aus keiner höheren Quelle als den seltsamen Ideen der Einbildung hervor, und ihr Einfluß wirkte zerstörend auf alle Autorität, menschliche sowohl als göttliche. Wahres Christentum nimmt das Wort Gottes als das große Schatzhaus der inspirierten Wahrheit und den Prüfstein aller Eingebung an.
Nach
seiner Rückkehr von der Wartburg vollendete Luther seine Übersetzung des Neuen
Testamentes, und bald wurde das Evangelium dem deutschen Volk in seiner eigenen
Sprache gegeben. Diese Übersetzung wurde von allen, welche die Wahrheit
liebten, mit großer Freude aufgenommen, aber höhnisch von denen, welche
menschliche Überlieferungen und Menschengebote vorzogen, verworfen.
Die Priester beunruhigte der
Gedanke, daß das gewöhnliche Volk jetzt fähig sein werde, mit ihnen die
Lehren des Wortes Gottes zu besprechen, und daß ihre eigene Unwissenheit
dadurch bloßgestellt werde. Die Waffen ihrer fleischlichen Vernunft waren
machtlos gegen das Schwert des Geistes. Rom bot seinen ganzen Einfluß auf, um
die Verbreitung der Heiligen Schrift zu hindern; aber Dekrete, Bannflüche und
Folter waren in gleichem Maße wirkungslos. Je mehr es die Bibel verdammte und
verbot, desto mehr verlangte das Volk danach, zu erfahren, was sie wirklich
lehre. Alle, die lesen konnten, waren begierig, das Wort Gottes für
sich selbst zu erforschen. Sie führten es mit sich, sie lasen es und lasen es
wiederum und waren nicht befriedigt, bis sie große Teile auswendig gelernt
hatten. Als Luther sah, mit welcher Gunst das Neue Testament aufgenommen wurde,
machte er sich unverzüglich an die Übersetzung des Alten und veröffentlichte
Teile davon so schnell wie sie vollendet wurden.
Luthers
Schriften wurden in Stadt und Land gleich willkommen geheißen. „Was Luther
und seine Freunde schrieben, wurde von andern verbreitet. Mönche, welche sich
von der Ungesetzlichkeit der Klostergelübde überzeugt hatten und nach ihrer
langen Untätigkeit ein arbeitsames Leben führen wollten, aber für die Predigt
des göttlichen Worts zu geringe Kenntnisse besaßen, durchstreiften die
Provinzen, um Luthers Bücher zu verkaufen. Es gab bald sehr viele dieser
mutigen Hausierer.“ (Ebd., 9. Buch, 11. Abschn., S. 88)
Mit großer
Begierde wurden diese Schriften von Reichen und Armen, Gelehrten und Ungelehrten
durchforscht. Abends lasen die Dorfschullehrer sie kleinen um den Herd
versammelten Gruppen laut vor. Bei jeder unternommenen Anstrengung wurden einige
Seelen von der Wahrheit überzeugt, nahmen das Wort mit Freudigkeit auf und erzählten
andern wiederum die frohe Kunde.
Die
Worte der Bibel wurden bewahrheitet: „Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut
es und macht klug die Einfältigen.“ (Ps. 119, 130.) Das Erforschen der
Heiligen Schrift bewirkte eine mächtige Veränderung in den Gemütern und
Herzen des Volkes. Die päpstliche Herrschaft hatte ihren Untertanen ein
eisernes Joch auferlegt, welches sie in Unwissenheit und Erniedrigung hielt.
Eine abergläubische Wiederholung von Formen hatte man gewissenhaft befolgt;
aber bei all diesem hatten Herz und Verstand nur einen geringen Anteil gehabt.
Luthers Predigten, welche die deutlichen Wahrheiten des Wortes Gottes
hervorhoben, und das Wort selbst, das in die Hände des gewöhnlichen Volkes
gelegt, seine schlafenden Kräfte erweckt hatte, reinigten und veredelten nicht
nur die geistliche Natur, sondern erteilten dem Verstand neue Kraft und Stärke.
Personen aller Stände konnte man mit der Bibel in der Hand die Lehren der Reformation verteidigen sehen. Die Päpstlichen, welche das Studium der Heiligen Schrift den Priestern und Mönchen überlassen hatten, forderten jetzt diese auf, aufzutreten und die neuen Lehren zu widerlegen. Aber sowohl die Priester als auch die Mönche, welche die Heilige Schrift und die Kraft Gottes nicht kannten, wurden von denen, die sie als ketzerisch und ungelehrt angeklagt hatten, vollkommen geschlagen. „Leider,“ sagt ein katholischer Schriftsteller, hatte Luther den Seinigen eingebildet, man dürfe nur den Aussprüchen der heiligen Bücher Glauben schenken.“ (Ebd., S. 86f.) Ganze Scharen versammelten sich, um zu hören, wie Männer von nur geringer Bildung die Wahrheit verteidigten und sie sogar mit gelehrten und beredten Theologen besprachen. Die schmähliche Unwissenheit der großen Männer wurde offenbar, als man ihren Beweisführungen mit den einfachen Lehren des Wortes entgegentrat. Handwerker und Soldaten, Frauen und selbst Kinder waren mit den Lehren der Bibel besser bekannt als die Priester oder die gelehrten Doktoren.
Als
Unterschied zwischen den Jüngern des Evangeliums und den Verteidigern des päpstlichen
Aberglaubens gab sich nicht minder in den Reihen der Gelehrten als unter dem gewöhnlichen
Volk zu erkennen. „Die alten Stützen der Hierarchie hatten die Kenntnis der
Sprachen und das Studium der Wissenschaft vernachlässigt, ihnen trat eine
studierende, in der Schrift forschende, mit den Meisterwerken des Altertums sich
befreundende Jugend entgegen. Diese aufgeweckten Köpfe und unerschrockenen Männer
erwarben sich bald solche Kenntnisse, daß sich lange Zeit keiner mit ihnen
messen konnte. … Wo die jungen Verteidiger der Reformation mit den römischen
Doktoren zusammentrafen, griffen sie diese mit solcher Leichtigkeit und
Zuversicht an, daß die unwissenden Menschen zögerten, verlegen wurden und sich
allgemein gerechte Verachtung zuzogen.“ (Ebd., S. 86f.)
Als die römischen Geistlichen sahen, daß ihre Zuhörerschar geringer wurde, riefen sie die Hilfe der Behörden an und versuchten mit allen in ihrer Gewalt stehenden Mitteln, ihre Anhänger zurückzubringen. Aber das Volk hatte in den neuen Lehren das gefunden, was die Bedürfnisse der Seele befriedigte, und wandte sich von jenen ab, die es so lange mit wertlosen Trebern abergläubischer Gebräuche und menschlicher Überlieferungen gespeist hatten.
Als die
Verfolgung gegen die Lehrer der Wahrheit entbrannte, beachteten diese die Worte
Christi: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine
andere.“ (Matth. 10, 23.) Das Licht drang überall hin. Die Flüchtigen fanden
irgendwo eine gastfreundliche Tür, die sich ihnen auftat, und daselbst
einkehrend, predigten sie Christum; sei es in der Kirche oder, wenn ihnen dies
Vorrecht versagt wurde, in Privatwohnungen oder unter freiem Himmel. Wo ihnen
Gehör geschenkt wurde, da war für sie ein geweihter Tempel. Die Wahrheit, mit
Tatkraft und Zuversicht verkündigt, breitete sich mit unwiderstehlicher Macht
aus.
Vergebens wurden die kirchlichen und die bürgerlichen Obrigkeiten angerufen, die Ketzerei zu unterdrücken. Umsonst wandten sie Gefängnis, Folter, Feuer und Schwert an. Tausende von Gläubigen besiegelten ihren Glauben mit ihrem Blut, und doch ging das Werk vorwärts. Die Verfolgung diente nur dazu, die Wahrheit auszubreiten, und die auf Satans Antriebe mit ihr verbundene Schwärmerei bewirkte, daß der Unterschied zwischen dem Werke Gottes und dem Werke Satans um so deutlicher hervortrat.