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Vor langer Zeit
lebten Gruppen bescheidener Menschen in abgelegenen italienischen Alpentälern.
Sie liebten Gott und ihre Bibel Doch nicht allen gefiel dies - sie wurden bitter
verfolgt. Tausende starben für ihre Treue.
Die meisten werden nie
erfahren, wieviel die Welt diesen Menschen schuldet. Hier lesen Sie die
Geschichte eines Volkes, welches auszurotten versucht wurde - die Geschichte der
Waldenser.
Inmitten der Dunkelheit, die sich während des langen Zeitabschnittes der päpstlichen
Herrschaft über die Erde lagerte, konnte das Licht der Wahrheit nicht vollständig
ausgelöscht werden. In jedem Zeitalter gab es Zeugen für Gott - Seelen, die
den Glauben an Christum als den einzigen Vermittler zwischen Gott und den
Menschen werthielten, denen die Bibel als die einzige Richtschnur des Lebens
galt und die den wahren Sabbat feierten.
Wieviel die Welt diesen Leuten schuldet, wird die Nachwelt nie erkennen. Sie
wurden als Ketzer gebrandmarkt, sie wurden verleumdet, ihre Beweggründe
angefochten, ihre Schriften unterdrückt, mißdeutet oder entstellt; dennoch
standen sie fest und bewahrten von Jahrhundert zu Jahrhundert ihren Glauben in
seiner Reinheit als ein heiliges Erbteil für die kommenden Geschlechter.
Die Geschichte des treuen Volkes Gottes während den Jahrhunderten der
Finsternis, welche der Erlangung der Oberherrschaft Roms folgten, steht im
Himmel geschrieben. Nur wenige Spuren davon lassen sich in menschlichen
Berichten finden, ausgenommen in den Anschuldigungen und den Anklagen ihrer
Verfolger. Es war das staatskluge Verfahren Roms, jede Spur von
Meinungsverschiedenheit betreffs seiner Lehren oder Verordnungen auszutilgen.
Alles Ketzerische, ob Personen oder Schriften, wurde vernichtet. Ein einziger
Ausdruck des Zweifels, eine Frage hinsichtlich der Autorität der päpstlichen
Dogmen, war genug, um das Leben von reich und arm, hoch oder niedrig zu
verwirken. Rom bestrebte sich auch, jeden Bericht seiner Grausamkeit gegen
Andersdenkende zu vernichten. Päpstliche Konzilien verordneten, daß, Bücher
und Schriften, die dergleichen Berichte enthielten, den Flammen übergeben
werden sollten. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst waren die Bücher gering
an Zahl und in einer für ihre Aufbewahrung nicht günstigen Form; deshalb fiel
es den Römlingen nicht schwer, ihre Absicht auszuführen.
Keine Gemeinde innerhalb der Grenzen der römischen Gerichtsbarkeit blieb lange ungestört im Genuß der Gewissensfreiheit. Kaum hatte das Papsttum Macht erlangt, als es schon seine Arme ausstreckte, um alles zu erdrücken, was sich weigerte, seine Oberhoheit anzuerkennen, und eine Gemeinde nach der anderen unterwarf sich seiner Herrschaft.
In
Großbritannien hatte das Urchristentum schon frühe Wurzel gefaßt. Das von den
Briten in den ersten Jahrhunderten angenommene Evangelium war damals noch
unverdorben von dem römischen Abfall. Die Verfolgung seitens heidnischer
Kaiser, die sich bis nach diesen entfernten Küsten ausdehnte, war die einzige
„Gabe“, welche die ersten britischen Gemeinden von Rom erhielten. Viele
Christen, die vor der Verfolgung in England flohen, fanden eine Zuflucht in
Schottland; von dort wurde die Wahrheit nach Irland getragen, und in allen
diesen Ländern nahm man sie mit Freuden auf.
Als
die Sachsen in Britannien eindrangen, gewann das Heidentum die Herrschaft. Die
Eroberer verschmähten es, von ihren Sklaven unterwiesen zu werden, und die
Christen wurden gezwungen, sich in die Berge und wilden Moore zurückzuziehen.
Doch das eine Zeitlang verborgene Licht fuhr fort zu brennen. In Schottland
schien es ein Jahrhundert später mit einem Glanz, der sich über weit entlegene
Länder erstreckte. Von Irland kamen der fromme Kolumban und seine Mitarbeiter;
sie sammelten die zerstreuten Gläubigen auf der einsamen Insel Iona um sich und
machten sie zum Mittelpunkt ihrer Missionstätigkeit. Unter
diesen Evangelisten befand sich ein Beobachter des biblischen Sabbats, und so
wurde diese Wahrheit unter dem Volk eingeführt. Auf lona wurde eine Schule
errichtet, von wo aus Evangelisten nicht nur nach Schottland und England,
sondern auch nach Deutschland, der Schweiz und sogar nach Italien ausgingen.
Aber
Rom hatte seine Augen auf Britannien gerichtet und war entschlossen, es unter
seine Oberherrschaft zu bringen. Im sechsten Jahrhundert unternahmen seine
Sendboten die Bekehrung der heidnischen Sachsen. Sie wurden von den stolzen
Barbaren günstig aufgenommen und brachten viele Tausende dahin, sich zum römischen
Glauben zu bekennen. Beim Fortschritt des Werkes trafen die päpstlichen Führer
und ihre Bekehrten mit den Urchristen zusammen, die einfach, bescheiden und
biblisch in Charakter, Lehre und Lebensart waren. Die
römischen Abgesandten verlangten, daß diese Christengemeinden die
Oberherrschaft des Papstes anerkennen sollten. Die Briten erwiderten sanftmütig,
daß sie alle Menschen zu lieben wünschten, daß jedoch der Papst nicht zur
Oberherrschaft in der Kirche berechtigt sei und sie ihm nur jene Unterständigkeit
erweisen könnten, die jedem Nachfolger Christi gebühre. Wiederholte Versuche
wurden gemacht, um ihre Untertanentreue gegen Rom zu sichern; aber diese demütigen
Christen, erstaunt über den von seinen Sendlingen entfalteten Stolz, erwiderten
standhaft, daß sie keinen andern Herrn als Christum kannten. Nun offenbarte
sich der wahre Geist des Papsttums. Der römische Führer sagte: „Wenn ihr die
Bruderhand, die euch den Frieden bringen will, nicht annehmen mögt, so sollt
ihr Feinde bekommen, die euch den Krieg bringen. Wenn ihr nicht mit uns den
Sachsen den Weg des Lebens verkündigen wollt, so sollt ihr von ihrer Hand den
Todesstreich empfangen.“ (Beda, Hist. Eccl., II, Kap. 2, Oxford, 1896.
d'Aubigne, Gesch. d. Ref., 17. Bhc., 2. Abschn. Neander Kirchengesch., 3. Par.,
1. Abschn., S. 9. Gotha, 1856.) Dies waren keine leeren Drohungen. Diese treuen
Zeugen für einen biblischen Glauben wurden verfolgt und vernichtet oder
gezwungen, sich der Herrschaft des Papstes zu unterwerfen.
In Ländern außerhalb der Gerichtsbarkeit Roms bestanden während vieler Jahrhunderte Gemeinschaften von Christen, die sich beinahe frei von der päpstlichen Verderbnis hielten. Sie waren vom Heidentum umgeben und litten im Laufe der Jahre durch dessen Irrtümer; aber sie fuhren fort, die Bibel als alleinige Richtschnur des Glaubens zu betrachten und hielten manche Wahrheitspunkte fest. Sie glaubten an die ewige Gültigkeit des Gesetzes Gottes und beobachteten den Sabbat des vierten Gebotes. Derartige Gemeinden fanden sich in Afrika und unter den Armeniern in Asien.
Unter denen aber, welche sich den Eingriffen der päpstlichen Macht
widersetzten, standen die Waldenser zuvorderst. Gerade in dem Lande, wo das
Papsttum seinen Sitz aufgeschlagen hatte, wurde seiner Falschheit und seiner
Verderbtheit der entschlossenste Widerstand geleistet.
Jahrhundertelang hielten die Gemeinden in Piemont ihre Unabhängigkeit aufrecht,
aber schließlich kam die Zeit, da Rom auf ihre Unterwerfung bestand. Nach
erfolglosen Kämpfen gegen dessen Tyrannei anerkannten die Leiter dieser
Gemeinden widerstrebend die Oberherrschaft der Macht, der sich die ganze Welt zu
beugen schien. Eine Anzahl jedoch weigerte sich, der Autorität des Papstes oder
der Prälaten nachzugeben und war entschlossen, Gott ihre Treue zu halten und
die Reinheit und Einfachheit ihres Glaubens zu bewahren. Eine Trennung fand
statt. Die, welche dem alten Glauben treu blieben, zogen sich nun zurück;
einige verließen ihre heimatlichen Alpen und pflanzten das Banner der Wahrheit
in fremden Landen auf; andere zogen sich in entlegene Bergschluchten und felsige
Festen zurück und bewahrten daselbst ihre Freiheit, Gott zu verehren.
Der
Glaube, welcher viele Jahrhunderte lang von den Waldensern bewahrt und gelehrt
wurde, stand in einem scharfen Gegensatz zu den von Rom ausgehenden Lehrsätzen.
Ihr Glaube hatte das geschriebene Wort Gottes, die Grundsätze des wahren
Christentums zur Grundlage. Doch waren jene einfachen Landleute in ihren dunklen
Zufluchtsorten, abgeschlossen von der Welt und an ihre täglichen Pflichten
unter ihren Herden und in ihren Weingärten gebunden, nicht von selbst zu der
Wahrheit gekommen, die im Widerspruch zu den Lehrsätzen und Irrlehren der
gefallenen Kirche stand; ihr Glaube war nicht ein neu angenommener; ihre religiöse Überzeugung
war ein Erbgut ihrer Väter. Sie kämpften für den Glauben der apostolischen
Kirche, „der einmal den Heiligen übergeben ist.“ (Judas 3.) Die Gemeinden
in der Wüste, und nicht die stolze Priesterherrschaft auf dem Thron der großen
Welthauptstadt, war die wahre Gemeinde Christi, der Wächter der Schätze der
Wahrheit, die Gott seinem Volk anvertraut hatte, um sie der Welt zu übermitteln.
Unter den Hauptursachen, welche zu der Trennung der wahren Gemeinde von Rom geführt hatten, war ihr Haß gegen den biblischen Sabbat. Wie von der Prophezeiung vorhergesagt, warf die päpstliche Macht die Wahrheit zu Boden. Das Gesetz Gottes wurde in den Staub getreten, während die Überlieferungen und Gebräuche der Menschen erhoben wurden. Die Kirchen, welche unter der Herrschaft des Papsttums standen, wurden schon früh gezwungen, den Sonntag als einen heiligen Tag zu ehren. Unter dem vorherrschenden Irrtum und Aberglauben wurden selbst von dem wahren Volke Gottes viele so verwirrt, daß sie den Sabbat feierten und gleichzeitig sich auch am Sonntag der Arbeit enthielten. Dies aber genügte den päpstlichen Führern nicht. Sie verlangten nicht nur, daß der Sonntag geheiligt, sondern auch, daß der Sabbat entheiligt werde, und sie verurteilten in den stärksten Ausdrücken alle, die es wagten, ihm Ehre zu erweisen. Nur wer der römischen Macht entronnen war, konnte dem Gesetze Gottes in Frieden gehorchen.
Die
Waldenser gehörten mit zu den ersten Völkern Europas, die in den Besitz einer
Übersetzung der Heiligen Schrift gelangten (s. Anhang, Anm. 10). Jahrhunderte
vor der Reformation besaßen sie eine Abschrift der Bibel in ihrer
Muttersprache; somit hatten sie die Wahrheit unverfälscht und wurden dadurch zu
einem besonderen Gegenstand des Hasses und der Verfolgung. Sie
erklärten die römische Kirche für das abtrünnige Babylon der Offenbarung und
erhoben sich unter Gefahr ihres Lebens, um seinen Verführungen zu widerstehen.
(Hahn, Gesch. d. Ketzer, Bd. 2, S. 80-86.) Unter dem Druck einer lang
anhaltenden Verfolgung wurden etliche in ihrem Glauben schwankend und ließen
nach und nach seine unterscheidenden Grundsätze fahren; andere hielten an der
Wahrheit fest. In den finstern Zeiten des Abfalls fanden sich Waldenser, welche
die Oberherrschaft Roms bestritten, die Bilderverehrung als Götzendienst
verwarfen und den wahren Sabbat beobachteten. Unter den grimmigsten Stürmen des
Widerstandes bewahrten sie ihren Glauben. Obwohl von den savoyischen Speeren
durchbohrt und von den römischen Brandfackeln versengt, standen sie doch
unentwegt ein für Gottes Wort und Ehre.
Hinter
den hohen Bollwerken der Gebirge - zu allen Zeiten der Zufluchtsort für die
Verfolgten und Unterdrückten - fanden die Waldenser ein Versteck. Hier wurde
das Licht der Wahrheit während der Finsternis des Mittelalters leuchtend
erhalten; hier bewahrten tausend Jahre lang Zeugen der Wahrheit den alten
Glauben.
Gott
hatte für sein Volk ein Heiligtum von feierlicher Erhabenheit vorgesehen, den
gewaltigen Wahrheiten entsprechend, die ihm anvertraut worden waren. Jenen
getreuen Verbannten waren die Berge ein Sinnbild der unwandelbaren Gerechtigkeit
Jehovas. Sie wiesen ihre Kinder auf die Höhen hin, welche sich in unveränderlicher
Majestät vor ihnen auftürmten und sprachen zu ihnen von dem Allmächtigen, bei
dem keine Veränderung noch Wechsel ist, dessen Wort ebenso fest gegründet ist
wie die ewigen Hügel. Gott hatte die Berge festgesetzt und sie mit Kraft gegürtet;
kein Arm, außer dem der unendlichen Macht, konnte sie von ihrer Stelle bewegen.
In gleicher Weise hatte er sein Gesetz, die Grundlage seiner Regierung im Himmel
und auf Erden, aufgerichtet. Wohl konnte der Arm des Menschen seine
Nebenmenschen erreichen und ihr Leben vernichten; aber er vermochte ebensowenig
die Berge aus ihren Grundfesten zu reißen und sie ins Meer zu schleudern, wie
eine Vorschrift des Gesetzes Jehovas zu verändern oder eine seiner Verheißungen
auszutilgen, die denen gegeben sind, die seinen Willen tun. In ihrer Treue gegen
Gottes Gesetz sollten seine Diener ebenso feststehen wie die unbeweglichen
Berge.
Die Gebirge, welche ihre tiefen Täler umrahmten, waren beständige Zeugen von Gottes Schöpfungsmacht und eine untrügliche Versicherung seiner schützenden Sorgfalt. Jene Pilger gewannen die stillen Sinnbilder der Gegenwart Jehovas lieb. Sie gaben sich keiner Unzufriedenheit über die Härte ihres Loses hin, fühlten sich inmitten der Einsamkeit der Berge nie allein. Sie dankten Gott, daß er ihnen einen Zufluchtsort vor dem Zorn und der Grausamkeit der Menschen bereitet hatte. Sie freuten sich ihrer Freiheit, vor ihm anzubeten. Oft, wenn sie von ihren Feinden verfolgt wurden, erwies sich die Feste der Höhen als sicherer Schutz. Von manchem hohen Felsen sangen sie das Lob Gottes, und die Heere Roms konnten ihre Dankeslieder nicht zum Schweigen bringen.
Rein,
einfältig und inbrünstig war die Frömmigkeit dieser Nachfolger Christi. Sie
schätzten die Grundsätze der Wahrheit höher als Häuser, Güter, Freunde,
Verwandte, ja selbst als das Leben. Diese Grundsätze versuchten sie ernstlich
den Herzen der Jugend einzuprägen. Von
frühester Kindheit an wurden die Kinder in der Heiligen Schrift unterwiesen und
gelehrt, die Forderungen des Gesetzes Gottes heilig zu achten. Da es nur wenige
Abschriften der Bibel gab, wurden ihre köstlichen Worte dem Gedächtnisse
eingeprägt, und viele Waldenser wußten große Teile des Alten und des Neuen
Testaments auswendig. Gedanken an Gott wurden sowohl mit den erhabenen
Naturlandschaften als auch mit den bescheidenen Segnungen des täglichen Lebens
verbunden. Kleine Kinder wurden dazu angehalten, dankbar zu Gott als dem Geber
jeder Gunst und jeder Freude aufzublicken.
Eltern,
so zärtlich und liebevoll sie auch waren, liebten ihre Kinder zu weislich, um
sie an Selbstbefriedigung zu gewöhnen. Vor ihnen lag ein Leben voller, Prüfungen
und Schwierigkeiten, vielleicht der Tod eines Märtyrers. Sie
wurden von Kindheit an dazu erzogen, Schwierigkeiten zu ertragen, sich etwaigen
Befehlen zu unterwerfen und doch für sich selbst zu denken und zu handeln.
Schon früh wurden sie gelehrt, Verantwortlichkeiten zu tragen, auf der Hut zu
sein im Reden und die Klugheit des Schweigens zu verstehen. Ein unbedachtes
Wort, das in Gegenwart der Feinde fallen gelassen wurde, konnte nicht nur das
Leben des Sprechenden, sondern auch dasjenige von Hunderten seiner Brüder gefährden;
denn gleichwie Wölfe ihre Beute jagen, verfolgten die Feinde der Wahrheit die,
welche es wagten, Glaubensfreiheit zu beanspruchen.
Die
Waldenser hatten ihre weltliche Wohlfahrt der Wahrheit wegen geopfert und
arbeiteten unermüdlich und mit beharrlicher Geduld für ihr tägliches Brot.
Jeder Fleck bestellbaren Bodens in den Gebirgen wurde sorgfältig ausgenützt;
die Täler und die wenigen fruchtbaren Abhänge wurden ergiebig gemacht.
Sparsamkeit und strenge Selbstverleugnung bildeten einen Teil der Erziehung,
welche die Kinder als einziges Vermächtnis erhielten. Sie wurden gelehrt, daß
Gott das Leben zu einer Schule bestimmt habe und daß ihre Bedürfnisse nur
durch persönliche Arbeit, durch Vorbedacht, Sorgfalt und Glauben gedeckt werden
könnten. Wohl war das Verfahren mühsam und beschwerlich, aber es war heilsam
und gerade das, was allen Menschen in ihrem gefallenen Zustand not tut; es war
die Schule, welche Gott für ihre Erziehung und Entwicklung vorgesehen hatte. Während
die Jugend an Mühsal und Ungemach gewöhnt wurde, vernachlässigte man nicht
die Bildung des Verstandes. Man lehrte, daß alle Kräfte Gott gehören und daß
alle für seinen Dienst vervollkommnet und entwickelt werden müssen.
Die Gemeinden der Waldenser glichen in ihrer Reinheit und Einfachheit der
Gemeinde zu den Zeiten der Apostel. Indem sie die Oberherrschaft des Papstes und
der Prälaten verwarfen, hielten sie die Bibel als die höchste und einzig
unfehlbare Autorität. Ihre Prediger folgten dem Beispiel ihres Meisters, der
nicht gekommen war, „daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene.“ Sie
speisten die Herde Gottes, indem sie sie auf die grüne Aue und zu dem frischen
Wasser seines heiligen Wortes führten. Weit abgelegen von den Denkmälern
weltlicher Pracht und Ehre versammelte sich das Volk nicht in stattlichen
Kirchen oder großartigen Kathedralen, sondern im Schatten der Gebirge, in den
Alpentälern oder zuzeiten der Gefahr in dieser oder jener Felsenfeste, um den
Worten der Wahrheit von den Lippen der Knechte Christi zu lauschen. Die
Seelenhirten predigten nicht nur das Evangelium, sondern besuchten auch die
Kranken, unterrichteten die Kinder, ermahnten die Irrenden und wirkten
daraufhin, Streitigkeit zu schlichten und Eintracht und brüderliche Liebe zu fördern.
Zur Zeit des Friedens wurden sie durch die freiwilligen Gaben des Volkes
unterhalten; doch, gleich Paulus, dem Teppichmacher, erlernte ein jeglicher ein
Handwerk oder einen Beruf, wodurch er im Notfalle für seinen eigenen Unterhalt
sorgen konnte.
Die
Seelenhirten unterrichteten die Jugend. Während die Zweige des allgemeinen
Wissens nicht unbeachtet blieben, machte man die Bibel zum Hauptgegenstand des
Studiums. Die Schüler lernten das Matthäus- und das Johannes-Evangelium nebst
vielen der Briefe auswendig und befaßten sich mit dem Abschreiben der Heiligen
Schrift. Etliche Handschriften enthielten die ganze Bibel, andere nur kurze Auszüge
denen seitens Personen, welche imstande waren, die Bibel auszulegen, einige
einfache Erklärungen des Textes beigefügt waren. Auf diese Weise wurden die
Schätze der Wahrheit, die so lange von jenen, die sich über Gott erheben
wollten, verborgen gehalten worden waren, zutage gefördert.
Durch geduldige, unermüdliche Arbeit, oft in den tiefen finsteren Höhlen der Erde bei Fackellicht, wurden die Heiligen Schriften Vers für Vers, Kapitel für Kapitel, abgeschrieben. So ging das Werk voran, indem der offenbarte Wille Gottes wie reines Gold hervor leuchtete; wieviel strahlender, klarer und mächtiger infolge der Prüfungen, die um seinetwillen erduldet wurden, konnten nur diejenigen erkennen, die sich an dem Werke beteiligten. Engel vom Himmel umgaben diese treuen Arbeiter.
Satan
hatte die päpstlichen Priester und Prälaten angetrieben, das Wort der Wahrheit
unter dem Schutt des Irrtums, der Ketzerei und des Aberglaubens zu begraben;
aber in höchst wunderbarer Weise wurde es während allen Zeitaltern der
Finsternis unverdorben bewahrt. Es trug nicht das Gepräge des Menschen, sondern
den Stempel Gottes. Die Menschen sind unermüdlich gewesen in ihren
Anstrengungen, die klare, einfache Bedeutung der Schrift zu verdunkeln und sie
so hinzustellen, als ob sie sich selbst widerspreche; aber gleich der Arche auf
den Wogen der Tiefe widersteht das Wort Gottes den Stürmen, welche ihm mit
Vernichtung drohen. Wie die Mine reich an Gold- und Silberadern ist, die unter der Oberfläche
verborgen liegen, so daß alle, welche ihre köstlichen Schätze entdecken
wollen, danach graben müssen, so hat die Heilige Schrift Schätze der Wahrheit,
die nur dem ernsten, demütigen, betenden Sucher offenbar werden. Gott
beabsichtigte, daß die Bibel ein Lehrbuch für alle Menschen sowohl in der
Kindheit als auch in der Jugendzeit und im Mannesalter sein und immer erforscht
werden sollte. Er gab den Menschen sein Wort als eine Offenbarung seiner selbst.
Mit jeder neuen, erkannten Wahrheit wird der Charakter ihres Urhebers deutlicher
entfaltet. Das Studium der Heiligen Schrift ist das göttlich verordnete Mittel,
die Menschen in engere Verbindung mit ihrem Schöpfer zu bringen und ihnen eine
klarere Erkenntnis seines Willens zu geben. Es ist das Verkehrsmittel zwischen
Gott und dem Menschen.
Während die Waldenser die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang erkannten, übersahen sie keineswegs die Wichtigkeit einer Berührung mit der Welt, einer Kenntnis der Menschen und des tätigen Lebens, um den Geist zu erweitern und den Verstand zu schärfen. Aus ihren Schulen in den Bergen wurden etliche Jünglinge nach Erziehungsanstalten in den Städten Frankreichs oder Italiens gesandt, wo sie ein ausgedehnteres Feld zum Studieren, Denken und Beobachten haben konnten als in ihren heimatlichen Alpen. Die auf diese Weise hinaus gesandten Jünglinge waren Versuchungen ausgesetzt; sie sahen Laster und begegneten Satans verschlagenen Werkzeugen, welche ihnen die verfänglichsten Irrlehren und die gefährlichsten Täuschungen aufzudrängen suchten. Aber ihre Erziehung von Kind auf war dazu angelegt, sie auf alle diese Gefahren vorzubereiten.
In den Schulen, wohin sie gingen, sollten sie niemand zum Vertrauten machen.
Ihre Kleider waren besonders eingerichtet, um ihren größten Schatz - die
kostbarsten Abschriften der Heiligen Schrift - darin zu verbergen. Diese, die
Frucht Monate- und jahrelanger harter Arbeit, führten sie mit sich, und wann es
ihnen, ohne Verdacht zu erregen, möglich war, legten sie behutsam einen Teil in
den Weg solcher, deren Herzen empfänglich für die Wahrheit zu sein schienen.
Von Mutterschoß an waren die waldensischen Jünglinge mit diesem Zweck im Auge
erzogen worden; sie verstanden ihr Werk und vollführten es treulich.
Viele wurden in diesen Lehranstalten zum wahren Glauben bekehrt, ja häufig
durchdrangen dessen Grundsätze die ganze Schule, und doch konnten die päpstlichen
Leiter bei sorgfältigster Nachforschung der sogenannten verderblichen Ketzerei
nicht auf den Grund kommen.
Christi Geist ist ein Missionsgeist. Der allererste Drang des erneuerten
Herzens geht darauf hinaus, andere zum Heiland zu bringen. Derart war auch der
Geist der Waldenser. Sie
fühlten, daß Gott mehr von ihnen verlangte, als nur die Wahrheit in ihrer
Lauterkeit unter den eigenen Gemeinden zu erhalten, daß auf ihnen die
feierliche Verantwortlichkeit ruhte, ihr Licht denen, die in der Finsternis
waren, leuchten zu lassen, und durch die gewaltige Macht des Wortes Gottes
suchten sie die Bande, welche Rom auferlegt hatte, zu brechen. Die Prediger der
Waldenser wurden als Missionare ausgebildet, und jeder, der ins Predigtamt
eintreten wollte, mußte sich vorerst eine Erfahrung als Evangelist sammeln - mußte
drei Jahre lang in dem einen oder anderen Missionsfeld wirken, ehe er über eine
Gemeinde in der Heimat eingesetzt wurde. Dieser Dienst, der von vornherein
Selbstverleugnung und Opfer forderte, war eine passende Einleitung zu den
Erfahrungen eines Seelenhirten in jenen Zeiten, welche die Menschenherzen auf
die Probe stellten. Die Jünglinge, welche zum heiligen Amt eingesegnet wurden,
hatten keineswegs irdische Reichtümer und Ehre in Aussicht, sondern sahen einem
Leben von Mühsalen und Gefahren und möglicherweise dem Martertod entgegen. Die
Sendboten gingen je zwei und zwei hinaus, wie Jesus seine Jünger aussandte. Mit
jedem Jüngling ging gewöhnlich ein älterer und erfahrener Begleiter, der als
Führer des jüngeren diente und für dessen Ausbildung er verantwortlich
gehalten wurde und dessen Anweisungen jener Folge leisten mußte. Diese
Mitarbeiter waren nicht immer beisammen, vereinigten sich aber oft zum Gebet und
zur Beratung und stärkten sich auf diese Weise gegenseitig im Glauben.
Es
würde sicherlich Niederlagen herbeigeführt haben, wenn diese Leute den Zweck
ihrer Mission bekanntgegeben hätten; deshalb verbargen sie sorgfältig ihren
wirklichen Stand. Jeder Prediger verstand irgendein Handwerk oder Gewerbe, und
diese Glaubensboten führten ihr Werk unter dem Gewand eines weltlichen Berufes,
gewöhnlich eines Verkäufers oder Hausierers aus. „Sie boten Seide,
Schmucksachen und andere Gegenstände, die zu jener Zeit nur aus weit entfernten
Handelsplätzen zu beziehen waren, zum Verkauf an und wurden dort als
Handelsleute willkommen geheißen, wo sie als Missionare zurückgewiesen worden
wären. “ (Wylie, Geschichte des Protestantismus, 1. Buch, 7. Kap.) Während
der Zeit erhoben sie ihre Herzen zu Gott um Weisheit, einen Schatz, der köstlicher
als Gold und Edelsteine war, vorführen zu können. Sie trugen Abschriften der
Bibel, ganz oder teilweise, verborgen bei sich, und wenn sich eine Gelegenheit
dazu bot, lenkten sie die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf diese Handschriften.
Oft wurde auf diese Weise ein Verlangen, Gottes Wort zu lesen, wachgerufen, und
ein Teil solchen mit Freuden überlassen, die es annehmen wollten.
Das Werk dieser Sendboten begann in den Ebenen und Tälern am Fuße ihrer eigenen Berge, erstreckte sich jedoch weit über diese Grenzen hinaus. Barfuß, in groben, von der Reise beschmutzten Gewändern, wie die ihres Herrn, zogen sie durch große Städte und drangen vorwärts bis nach entlegenen Ländern. Überall streuten sie den köstlichen Samen aus. Gemeinden erhoben sich auf ihrem Wege, und das Blut von Märtyrern zeugte für die Wahrheit. Der Tag Gottes wird eine reiche Ernte von Seelen offenbaren, die durch die Arbeit dieser getreuen Männer eingeheimst wurden. Heimlich und schweigend bahnte sich Gottes Wort seinen Weg durch die Christenheit und fand in den Wohnungen und Herzen vieler Menschen ein freundliches Willkommen.
Den
Waldensern war die Heilige Schrift nicht nur ein Bericht von Gottes Verfahren
mit den Menschen in der Vergangenheit und eine Offenbarung der
Verantwortlichkeiten und Pflichten in der Gegenwart, sondern auch eine Enthüllung
der Gefahren und Herrlichkeiten der Zukunft. Sie glaubten, daß das Ende aller
Dinge nicht weit entfernt sei; und indem sie die Bibel unter Gebet und Tränen
erforschten, machten ihre köstlichen Aussprüche einen um so tieferen Eindruck,
und sie erkannten deutlicher ihre Pflicht, anderen die darin enthaltenen selig
machenden Wahrheiten mitzuteilen. Durch das heilige Buch wurde ihnen der Erlösungsplan klar offenbart,
und sie fanden Trost, Hoffnung und Frieden im Glauben an Jesum. Je mehr das
Licht ihr Verständnis erleuchtete und ihre Herzen fröhlich machte, desto mehr
sehnten sie sich danach, seine Strahlen auch auf diejenigen zu lenken, welche
noch in der Finsternis des päpstlichen Irrtums befangen waren.
Sie
sahen, daß viele Menschen sich umsonst bestrebten, durch das Peinigen ihrer
Leiber Vergebung ihrer Sünden zu empfangen. Gelehrt, ihre Seligkeit durch gute
Werke zu verdienen, waren sie beständig mit sich selbst beschäftigt, ihre
Gedanken verweilten bei ihrem sündigen Zustand, sie sahen sich dem Zorn Gottes
ausgesetzt, kasteiten Seele und Leib und fanden doch keine Erleichterung. So
wurden gewissenhafte Seelen durch die Lehren Roms gebunden. Tausende verließen
Freunde und Verwandte und brachten ihr Leben in Klosterzellen zu. Durch oft
wiederholtes Fasten und grausame Geißelungen, durch nächtliche Andachten und
stundenlanges Knien auf den kalten, feuchten Steinen ihrer armseligen
Behausungen, durch lange Pilgerfahrten, erniedrigende Bußübungen und
furchtbare Qualen versuchten Tausende vergebens den Frieden des Gewissens zu
erlangen. Niedergebeugt von dem Bewußtsein der Sünde und beunruhigt von der
Furcht vor dem rächenden Zorn Gottes litten viele so lange, bis die erschöpfte
Natur vollständig unterlag, und ohne einen Strahl des Lichts oder der Hoffnung
sanken sie ins Grab.
Diesen schmachtenden Seelen das Brot des Lebens zu brechen, ihnen die
Botschaft des Friedens in den Verheißungen Gottes zu eröffnen und sie auf
Christum als ihre einzige Hoffnung der Rettung hinzuweisen, war das Verlangen
der Waldenser. Die
Lehre, daß gute Werke für die Übertretungen des Gesetzes Gottes Genugtuung zu
leisten vermögen, betrachteten sie als auf Irrtum begründet. Das Vertrauen auf
menschlichen Verdienst versperrt dem Blick die unendliche Liebe Christi. Jesus
starb als Opfer für die Menschen, weil die gefallene Menschheit nichts tun
kann, um Gott zu gefallen. Die Verdienste eines gekreuzigten und auferstandenen
Heilandes sind die Grundlage des christlichen Glaubens. Die Abhängigkeit der
Seele von Christo ist nicht minder wirklich, und eine Vereinigung mit ihm durch
den Glauben muß ebenso innig sein, wie die eines Gliedes mit dem Leibe oder
einer Rebe mit dem Weinstock.
Die Lehren der Päpste und Priester hatten die Menschen verleitet, Gottes und selbst Christi Charakter für streng, finster und abstoßend zu halten. Der Heiland wurde dargestellt, als ob er des Mitleids mit den Menschen in ihrem gefallenen Zustand so sehr ermangele, daß die Vermittlung von Priestern und Heiligen angerufen werden müsse. Die Gläubigen, deren Verständnis durch das Wort Gottes erleuchtet war, verlangten danach, diese Seelen auf Jesum als ihren mitleidsvollen, liebenden Heiland hinzuweisen, der mit ausgestreckten Armen alle einlädt, mit ihren Sündenlasten, ihren Sorgen und Schwierigkeiten zu ihm zu kommen. Sie sehnten sich danach, die Hindernisse wegzuräumen, welche Satan aufgetürmt hatte, damit die Menschen die Verheißungen nicht sehen und nicht direkt zu Gott kommen möchten, um ihre Sünden zu bekennen und Vergebung und Frieden zu erlangen.
Eifrig
entfaltete der waldensische Glaubensbote den forschenden Seelen die köstlichen
Wahrheiten des Evangeliums und brachte vorsichtig die sorgfältig geschriebenen
Teile der Heiligen Schrift hervor. Es war ihm die größte Freude, der
gewissenhaften, von der Sünde überzeugten Seele, die nur einen Gott der Rache,
der darauf wartet, seine Gerechtigkeit auszuüben, sehen konnte, Hoffnung
einzuflößen. Mit bebenden Lippen und tränenden
Augen, manchmal kniend, eröffnete er seinen Brüdern die köstlichen Verheißungen,
welche des Sünders einzige Hoffnung offenbaren. Auf diese Weise durchdrang das
Licht der Wahrheit manches verfinsterte Gemüt und vertrieb die dunkle Wolke,
bis die Sonne der Gerechtigkeit mit ihren heilenden Strahlen in das Herz schien.
Oft wurde ein Teil der Heiligen Schrift immer wieder gelesen, weil der Hörer es
wünschte, als ob er sich vergewissern wolle, daß er recht gehört habe. Besonders
wurde die Wiederholung von den Worten ernstlich gewünscht: „Das Blut Jesu
Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ (l. Joh. 1, 7.)
„Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn
erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern
das ewige Leben haben.“ (Joh. 3, 14. 15.)
Viele
wurden bezüglich der Ansprüche Roms aufgeklärt. Sie erkannten, wie eitel die
Vermittlung von Menschen oder Engeln zugunsten des Sünders ist. Als
das Licht ihnen aufging, riefen sie mit Freuden aus: Christus ist mein Priester;
sein Blut ist mein Opfer; sein Altar ist mein Beichtstuhl. Sie warfen sich völlig
auf die Verdienste Jesu und wiederholten die Worte: „Ohne Glauben ist's unmöglich,
Gott zu gefallen.“ Es ist „kein anderer Name den Menschen gegeben, darin wir
sollen selig werden.“ (Hebr. 11, 6; Apg. 4, 12.)
Die Gewißheit einer Heilandsliebe schien einigen dieser armen, sturmbewegten Seelen zu viel, um es erfassen zu können. So groß war die verursachte Erleichterung, solch eine Flut von Licht wurde über sie ausgeschüttet, daß sie in den Himmel versetzt zu sein schienen. Ihre Hand ruhte vertrauensvoll in der Hand Christi, ihre Füße standen auf dem Felsen des Heils. Alle Todesfurcht war verbannt, ja sie begehrten Gefängnis und Scheiterhaufen, wenn sie dadurch den Namen ihres Erlösers verherrlichen konnten.
An
geheimen Orten wurde das Wort Gottes hervor genommen und vorgelesen, zuweilen
einer einzelnen Seele, manchmal einer kleinen Schar, welche sich nach Licht und
Wahrheit sehnte. Oft wurde die ganze Nacht auf diese Weise zugebracht. So groß
war das Erstaunen und die Bewunderung der Zuhörer, daß der Evangeliumsbote
sich nicht selten gezwungen sah, mit dem Lesen inne zuhalten, bis das Verständnis
die frohe Botschaft des Heils erfassen konnte. Oft wurden ähnliche Worte wie
diese laut: Wird Gott wirklich mein Opfer annehmen? Wird er gnädig auf mich
herab schauen? Wird er mir vergeben? Die Antwort wurde gelesen:„ Kommet her zu
mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
(Matth. 11, 28.)
Der Glaube erfaßte die Verheißung, und als freudige Erwiderung hörte man: Keine langen Pilgerfahrten mehr; keine beschwerlichen Reisen nach heiligen Reliquienschreinen mehr. Ich kann zu Jesu kommen, so wie ich bin, sündhaft und unheilig, und er wird das bußfertige Gebet nicht verachten. „Deine Sünden sind dir vergeben“; auch meine, sogar meine, können vergeben werden!
Eine
Flut heiliger Freude erfüllte das Herz, und der Name Jesus wurde durch Lobgesänge
und Danksagungen verherrlicht. Jene glücklichen Seelen kehrten nach ihren
Wohnungen zurück, um Licht zu verbreiten und andern so gut sie konnten, ihre
neue Erfahrung zu wiederholen, daß sie den wahren und lebendigen Weg gefunden hätten.
Es lag eine seltsame und feierliche Macht
in den Worten der Heiligen Schrift, die jenen, die sich nach der Wahrheit
sehnten, unmittelbar zu Herzen ging. Es war die Stimme Gottes, welche alle, die
sie hörten, zur Überzeugung führte.
Der
Bote der Wahrheit ging seinen Weg; aber sein demütiges Auftreten, seine
Aufrichtigkeit, sein Ernst und seine tiefe Inbrunst waren Gegenstände häufiger
Bemerkungen. In vielen Fällen hatten seine Zuhörer ihn nicht gefragt, woher er
käme noch wohin er ginge. Sie waren erst so von Überraschung und nachher von
Dankbarkeit und Freude überwältigt gewesen, daß sie nicht daran gedacht
hatten, Fragen an ihn zu richten. Hätten sie ihn gebeten, nach ihren Wohnungen
zu kommen, so hätte er erwidert, daß er die verlorenen Schafe der Herde
besuchen müsse. Konnte er ein Engel vom Himmel gewesen sein? fragten sie sich.
In
vielen Fällen sahen sie den Wahrheitsboten nie wieder. Er war vielleicht in
andere Länder gegangen oder verbrachte sein Leben in irgendeinem unbekannten
Gefängnis, oder seine Gebeine bleichten wohl gar an der Stelle, wo er für die
Wahrheit gezeugt hatte. Die Worte aber, die er zurückgelassen hatte, konnten
nicht vernichtet werden; sie führten ihr Werk in Menschenherzen aus, und ihre
gesegneten Folgen werden erst im Gericht völlig erkannt.
Die waldensischen Sendboten drangen in das Gebiet Satans ein und regten dadurch die Mächte der Finsternis zu größerer Wachsamkeit an. Jede Anstrengung, die Sache der Wahrheit zu fördern, wurde von dem Fürsten der Bosheit überwacht, und er erregte die Furcht seiner Werkzeuge. Die Führer der Kirche sahen aus dem Wirken dieser bescheidenen Wanderer ein Anzeichen der Gefahr für ihre Sache erwachsen. Falls sie das Licht der Wahrheit ungehindert scheinen ließen, würde es die schweren Wolken des Irrtums, welche das Volk einhüllten, hinwegfegen, die Gemüter der Menschen auf Gott allein lenken und am Ende die Herrschaft Roms zugrunde richten.
Schon allein das Vorhandensein dieser Leute, welche den Glauben der alten
Gemeinde aufrechterhielten, war ein beständiges Zeugnis für Roms Abfall und
erregte deshalb bittersten Haß und Verfolgung. Ihre Weigerung, die Heilige
Schrift herauszugeben, war ebenfalls eine Beleidigung, die Rom nicht ertragen
konnte. Es beschloß deshalb, sie von der Erde zu vertilgen. Jetzt begannen die
schrecklichsten Kreuzzüge gegen Gottes Volk in seinen Gebirgswohnungen.
Inquisitoren spürten ihm nach, und oft wiederholte sich ein Vorfall wie damals,
als der unschuldige Abel durch den mörderischen Kain fiel.
Wiederholt wurden ihre fruchtbaren Äcker wüste gelegt, ihre Wohnungen und Kapellen der Erde gleich gemacht, so daß dort, wo einst blühende Felder und die Wohnungen eines harmlosen, arbeitsamen Volkes waren, nur eine Wüste übrig blieb. Viele dieser Zeugen für einen reinen Glauben wurden über die Berge hin verfolgt und in den Tälern aufgejagt, wo sie, eingeschlossen von mächtigen Wäldern und Felsspitzen, verborgen waren.
Keine
Belastung konnte gegen den sittlichen Charakter dieser geächteten
Menschenklasse aufgebracht werden. Sogar ihre Feinde erklärten, daß sie ein
friedfertiges, ruhiges und frommes Volk seien. Ihre große Missetat bestand
darin, daß sie Gott nicht nach dem Willen des Papstes anbeten wollten. Um
dieses Verbrechens willen wurde jegliche Demütigung, Beleidigung und Marter,
welche Menschen und Teufel ersinnen konnten, auf sie gehäuft.
Als
Rom einst beschloß, diese verhaßte Sekte auszurotten, wurden Bullen erlassen,
welche ihre Anhänger als Ketzer verdammten und sie der Niedermetzelung
preisgaben. (s. Anhang, Anm. 11.) Sie wurden nicht als Müßiggänger,
Unredliche oder Ausschweifende angeklagt, sondern es wurde erklärt, daß sie
einen Schein von Frömmigkeit und Heiligkeit bewahrten, wodurch die Schafe der
wahren Herde verführt würden. Deshalb wurde verordnet, diese heimtückische und abscheuliche Sekte von
Bösewichtern, falls sie sich weigerte abzuschwören, gleich giftigen Schlangen
zu zermalmen. (Wylie, 16. Buch, 1. Kap. Siehe auch Bender, Geschichte der
Waldenser, S. 81. 125, Ulm, 1850, Hahn, Gesch. d. W., S. 744 f.) Erwarteten
die Machthaber diese Worte wieder anzutreffen? Wußten sie, daß sie in den Büchern
des Himmels aufgezeichnet wurden, um ihnen im Gericht vorgehalten zu werden?
Jesus sagte: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.“ (Matth. 25, 40.)
Eine Bulle
forderte alle Glieder der Kirche auf, sich dem Kreuzzug gegen die Ketzer
anzuschließen. Als Aufmunterung zu diesem grausamen Werk sprach sie sie von
allen Kirchenbußen und Strafen, allgemeinen und persönlichen, frei, entband
alle, welche den Kreuzzug mitmachten, von irgendwelchen Eiden, die sie geleistet
haben mochten, machte ihre etwaigen unrechtmäßigen Ansprüche auf irgendein
Besitztum rechtsgültig und verhieß jedem, der einen Ketzer tötete, Erlaß
aller Sünden. Sie erklärte alle zugunsten der Waldenser geschlossenen Verträge
für nichtig, befahl den Dienstboten, ihren Dienst bei den Waldensern
aufzugeben, verbot allen, jenen irgendwelche Hilfe zu gewähren und ermächtigte
jedermann, von ihrem Eigentum Besitz zu nehmen. Dies
Schriftstück offenbarte deutlich den Herrschergeist, der diese Auftritte
leitete; das Gebrüll des Drachen und nicht die Stimme Christi ließ sich darin
vernehmen.
Die päpstlichen Anführer wollten ihren Charakter nicht mit dem großen Maßstab
des Gesetzes Gottes in Übereinstimmung bringen, sondern stellten einen Maßstab
auf, der ihnen paßte und beschlossen, alle zu zwingen, sich nach diesem zu
richten, weil Rom es so haben wollte. Die
schrecklichsten Trauerspiele wurden aufgeführt. Verkommene und gotteslästerliche
Priester und Päpste taten das Werk, welches Satan ihnen zugewiesen hatte.
Erbarmen hatte keinen Raum in ihren Herzen. Derselbe Geist, welcher Christum
kreuzigte und die Apostel erschlug, derselbe, der den blutdürstigen Nero gegen
die Getreuen in seinen Tagen antrieb, arbeitete daran, die Erde von denen zu
befreien, welche von Gott geliebt waren.
Die
Verfolgungen, von denen diese gottesfürchtigen Menschen viele Jahrhunderte lang
heimgesucht wurden, wurden mit einer Geduld und einer Ausdauer ertragen, welche
ihren Erlöser ehrte. Ungeachtet der gegen sie unternommenen Kreuzzüge,
ungeachtet der unmenschlichen Schlächterei, der sie unterworfen waren, fuhren
sie fort, ihre Sendboten auszuschicken, um die köstliche Wahrheit zu
verbreiten. Sie wurden zu Tode gejagt; doch ihr Blut bewässerte den gesäten
Samen, und dieser ermangelte nicht, Frucht zu bringen. So zeugten die Waldenser
für Gott schon Hunderte von Jahren vor der Geburt Luthers. Über viele Länder
verstreut, pflanzten sie den Samen der Reformation, welche zur Zeit Wiklifs
begann, weit und breit in den Tagen Luthers um sich griff und bis zum Ende der
Zeit fortgeführt werden soll von denen, welche ebenfalls willig sind, alles zu
leiden „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi.“ (Offb.
1, 9.)