LICHT DURCH FINSTERNIS

19     Wenn die Nacht hereinfällt, weint man, aber wir haben die Verheißung, daß ein Morgen kommt, wo man nie mehr weinen wird.

Jene, die die große Adventwahrheit entdecken, werden durch manche Enttäuschung gehen, bevor der große Tag hereinbricht.


Licht durch Dunkelheit

 

Durch alle Jahrhunderte hindurch wiederholt sich das Werk Gottes auf Erden in jeder großen Reformation oder religiösen Bewegung mit auffallender Ähnlichkeit. Gott verfährt mit den Menschen stets nach denselben Grundsätzen. Die wichtigen Bewegungen der Gegenwart finden ihr Gegenstück in denen der Vergangenheit, und die Erfahrungen der Gemeinde früherer Zeiten bieten wertvolle Lehren für unsere eigene Zeit.

Daß Gott durch seinen Heiligen Geist seine Knechte auf Erden in ganz besonderer Weise in den großen Bewegungen zur Weiterführung des Heilswerkes lenkt, wird in der Bibel deutlich gelehrt. Menschen sind Werkzeuge in Gottes Hand; er bedient sich ihrer, um seine Absichten der Gnade und der Barmherzigkeit auszuführen. Jeder hat seine Aufgabe; einem jeden ist ein Maß des Lichtes verliehen, den Erfordernissen seiner Zeit entsprechend und hinreichend, um ihn zur Verrichtung des Werkes, das Gott ihm auferlegt hat, zu befähigen. Aber kein Mensch, wie sehr er auch vom Himmel geehrt werden mag, hat einen vollen Begriff von dem großen Erlösungsplan erlangt oder auch nur die göttliche Absicht in dem Werk für seine eigene Zeit völlig erkannt. Die Menschen verstehen nicht völlig, was Gott durch das Werk, welches er ihnen zu tun gibt, ausrichten möchte; sie begreifen die Botschaft, die sie in seinem Namen verkündigen, nicht in ihrer ganzen Tragweite.

„Meinst du, daß du so viel wissest, was Gott weiß, und wollest es so vollkommen treffen wie der Allmächtige?“ „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken. “ „Ich bin Gott, und keiner mehr, ein Gott, desgleichen nirgends ist, der ich verkündige zuvor, was hernach kommen soll, und vorlängst, ehe denn es geschieht.“ (Hiob 11, 7; Jes. 55, 8. 9; 46, 9. 10.)

Selbst die Propheten, welche durch die besondere Erleuchtung des Geistes begünstigt worden waren, erfaßten die Bedeutung der ihnen anvertrauten Offenbarungen nicht völlig. Der Sinn sollte von Zeit zu Zeit entfaltet werden, je nachdem das Volk Gottes die darin enthaltenen Belehrungen benötigen würde.

Petrus schrieb von der durch das Evangelium ans Licht gebrachten Erlösung und sagte: „Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten, die von der Gnade geweissagt haben, so auf euch kommen sollte, und haben geforscht, auf welche und welcherlei Zeit deutete der Geist Christi, der in ihnen war und zuvor bezeugt hat die Leiden, die über Christum kommen sollten, und die Herrlichkeit darnach; welchen es offenbart ist. Denn sie haben's nicht sich selbst, sondern uns dargetan.“ (l. Petr. 1, 10–12.)

Doch während es den Propheten nicht verliehen war, die ihnen offenbarten Dinge völlig, zu verstehen, so suchten sie doch ernstlich, alles Licht zu gewinnen, welches Gott ihnen zu zeigen für gut fand. Sie suchten und forschten, auf welche und welcherlei Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, deutete. Welch eine Lehre für die Kinder Gottes im christlichen Zeitalter, zu deren Nutzen diese Weissagungen seinen Knechten gegeben wurden! Nicht für sie selbst, sondern damit sie es uns darreichten. Schaut diese heiligen Männer Gottes an, die gesucht und geforscht haben bezüglich der ihnen gegebenen Offenbarungen für Geschlechter, die noch nicht geboren waren. Stellt ihren heiligen Eifer der sorglosen Gleichgültigkeit gegenüber, mit der die Bevorzugten späterer Jahrhunderte diese Gabe des Himmels behandeln. Welch ein Vorwurf für die bequemlichkeitssüchtige, weltliebende Sorglosigkeit, die sich zufrieden gibt mit der Erklärung, die Weissagungen können nicht verstanden werden!

Obgleich der beschränkte menschliche Verstand unzulänglich ist, in den Rat des Ewigen einzudringen oder das Ende seiner Absichten völlig zu verstehen, so ist es doch infolge eines Irrtums oder einer Vernachlässigung seitens der Menschen, daß sie die Botschaften vom Himmel nur so dunkel erfassen. Häufig sind die Gemüter, sogar der Knechte Gottes, durch menschliche Anschauungen, Satzungen und falsche Lehren so verblendet, daß sie die grollen Dinge, welche er in seinem Worte offenbart hat, nur teilweise erfassen können. So verhielt es sich mit den Jüngern Christi selbst dann, als der Heiland persönlich mit ihnen war. Ihr Verständnis war durchdrungen von den volkstümlichen Begriffen über den Messias als einen weltlichen Fürsten, der Israel auf den Thron eines Weltreiches erheben sollte, und sie konnten die Bedeutung seiner Worte, mit denen er seine Leiden und seinen Tod voraussagte, nicht fassen.

Christus selbst hatte sie mit der Botschaft hinaus gesandt: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich ist herbei gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ (Mark. 1, 15.) Diese Botschaft gründete sich auf Daniel 9. Der Engel erklärte dort, daß die 69 Wochen bis auf Christum, den Fürsten, reichen sollten; und mit hohen Hoffnungen und freudiger Erwartung blickten die Jünger vorwärts auf die Errichtung des messianischen Reiches in Jerusalem, das über die ganze Erde herrschen sollte.

Sie predigten die ihnen von Christo anvertraute Botschaft, obgleich sie selbst ihren Sinn mißverstanden. Während sich die Verkündigung auf Dan. 9, 25 stützte, sahen sie nicht in dem nächsten Vers des nämlichen Kapitels, daß der Gesalbte ausgerottet werden sollte. Von ihrer frühesten Jugend hing ihr Herz an der vorempfundenen Herrlichkeit eines irdischen Reiches, und dadurch wurde ihr Verstand verblendet, sowohl mit Rücksicht auf die Angaben der Weissagung als auch auf die Worte Christi.

Sie verrichteten ihre Pflicht, indem sie der jüdischen Nation die Einladung der Barmherzigkeit anboten und dann, gerade zu der Zeit, da sie erwarteten, daß ihr Herr den Thron Davids einnehmen werde, sahen sie ihn wie einen Übeltäter ergriffen, gegeißelt, verspottet, verurteilt und am Kreuz auf Golgatha erhoben. Welche Verzweiflung und Seelenqual marterte die Herzen der Jünger während der Tage, da ihr Herr im Grabe schlief!

Christus war zur genauen Zeit und auf die in der Weissagung angedeutete Art und Weise gekommen. Das Zeugnis der Schrift war in jeglicher Einzelheit seines Lehramtes erfüllt worden. Er hatte die Botschaft des Heils verkündigt, und „seine Rede war gewaltig.“ Die Herzen seiner Zuhörer hatten an sich erfahren, daß sie vom Himmel war. Das Wort und der Geist Gottes bestätigten die göttliche Sendung seines Sohnes.

Die Jünger hingen noch immer mit unveränderter Hingabe an ihrem geliebten Meister; und doch waren ihre Gemüter in Ungewißheit und Zweifel gehüllt. In ihrer Seelenangst gedachten sie nicht der Worte Christi, die auf seine Leiden und seinen Tod hinwiesen. Wäre Jesus von Nazareth der wahre Messias gewesen, würden sie dann auf diese Weise in Täuschung und Schmerz gestürzt worden sein? Diese Frage quälte ihre Seelen, als der Heiland während der hoffnungslosen Stunden jenes Sabbats, der zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung lag, in seinem Grabe ruhte.

Obgleich die Nacht der Sorgen sich finster um diese Nachfolger Christi zusammenzog, so waren sie doch nicht verlassen. Der Prophet sagte: „So ich im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht... Er wird mich ans Licht bringen, daß ich meine Lust an seiner Gnade sehe.“ „Denn auch Finsternis nicht finster ist bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.“ Gott hatte gesagt: „Den Frommen geht das Licht auf in der Finsternis.“ „Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen; ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerige zur Ebene. Solches will ich ihnen tun und sie nicht verlassen.“ (Micha 7, 8. 9.; Ps. 139, 12; 112, 4; Jes. 42, 16.)

Die Verkündigung, welche die Jünger im Namen des Herrn gemacht hatten, war in jeder Hinsicht richtig, und die Ereignisse, auf welche sie verwiesen, spielten sich gerade dann ab. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbei gekommen!“ war ihre Botschaft gewesen. Bei dem Ablauf der Zeit - der 69 Wochen von Daniel 9, welche bis auf den Messias, „den Gesalbten“, reichen sollten - hatte Christus nach seiner Taufe durch Johannes im Jordan die Salbung des Heiligen Geistes empfangen. Und das Himmelreich, welches sie als herbei gekommen erklärt hatten, wurde beim Tode Christi aufgerichtet. Dies Reich war nicht, wie man sie gelehrt hatte, ein irdisches Reich; auch war es nicht das zukünftige unvergängliche Reich, welches aufgerichtet werden wird, wann das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden wird, des Reich ewig ist, und alle Gewalt ihm dienen und gehorchen wird. (Dan. 7, 27.) In der Bibelsprache wird der Ausdruck „Himmelreich“ gebraucht, um beide, das Reich der Gnade und das Reich der Herrlichkeit, zu bezeichnen. Das Reich der Gnade wird uns von Paulus im Hebräerbrief vor Augen geführt. Nachdem er auf Christum, den mitleidsvollen Fürsprecher, der Mitleid mit unserer Schwachheit hat, hingewiesen, fährt der Apostel fort: „Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden.“ (Hebr. 4, 16.) Der Gnadenstuhl oder Gnadenthron stellt das Gnadenreich vor, denn das Dasein eines Thrones setzt das Vorhandensein eines Reiches voraus. In vielen seiner Gleichnisse wendet Christus den Ausdruck „das Himmelreich“ an, um das Werk der göttlichen Gnade an den Herzen der Menschen zu bezeichnen.

So stellt der Stuhl der Herrlichkeit das Reich der Herrlichkeit vor; und auf dies Reich wird Bezug genommen in den Worten des Heilandes: „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle seine heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden.“ (Matth. 25, 31. 32.) Dies Reich ist noch zukünftig. Es wird nicht aufgerichtet werden bis zur Zeit der zweiten Ankunft Christi.

Das Reich der Gnade wurde unmittelbar nach dem Sündenfall errichtet, als ein Plan zur Erlösung des schuldigen Menschengeschlechts entworfen wurde. Es bestand damals in der Absicht und der Verheißung Gottes, und durch den Glauben konnten die Menschen seine Untertanen werden. Tatsächlich wurde es jedoch nicht aufgerichtet bis zum Tode Christi. Noch nach dem Antritt seiner irdischen Mission hätte der Heiland, ermattet von der Hartnäckigkeit und Undankbarkeit der Menschen, sich von dem auf Golgatha darbringenden Opfer zurückziehen können. In Gethsemane zitterte der Leidenskelch in seiner Hand. Selbst da noch hätte er den Blutschweiß von seiner Stirn wischen und das schuldige Geschlecht in seiner Sünde zugrunde gehen lassen können. Dann aber hätte es keine Erlösung für den gefallenen Menschen gegeben. Doch als der Heiland sein Leben hingab und mit seinem letzten Atemzug ausrief: „Es ist vollbracht!“ da war die Durchführung des Erlösungsplanes sichergestellt. Die Verheißung des Heils, dem sündigen Paar in Eden gegeben, war bestätigt. Das Reich der Gnade, welches zuvor in der Verheißung Gottes bestanden hatte, war dann aufgerichtet.

Somit gereichte der Tod Christi - gerade das Ereignis, welches die Jünger als den gänzlichen Untergang ihrer Hoffnung betrachtet hatten dazu, diese für ewig sicherzustellen. Während der Tod ihnen eine grausame Enttäuschung bereitet hatte, war er der höchste Beweis, daß ihr Glaube richtig gewesen war. Das Ereignis, das sie mit Trauer und Verzweiflung erfüllt hatte, tat einem jeden Kind Abrahams die Tür der Hoffnung auf, und in ihm gipfelte das zukünftige Leben und die ewige Glückseligkeit aller Gottgetreuen aus allen Zeitaltern.

Absichten unendlicher Barmherzigkeit gingen dennoch durch die getäuschten Erwartungen der Jünger in Erfüllung. Während ihre Herzen von der göttlichen Anmut und Macht der Lehre dessen, „der da redete, wie noch nie ein Mensch geredet“ hatte, gewonnen worden waren, war doch noch mit dem reinen Gold ihrer Liebe zu Jesu die wertlose Schlacke weltlichen Stolzes und selbstsüchtigen Ehrgeizes vermengt. Schon im oberen Saal, der zum Essen des Passahlammes hergerichtet war, in jener feierlichen Stunde, da der Meister schon in den Schatten Gethsemanes eintrat, „erhob sich ein Zank unter ihnen, welcher unter ihnen sollte für den Größten gehalten werden.“ (Luk. 22, 24.) Vor ihren Augen schwebte das Bild des Thrones, der Krone und der Herrlichkeit, während unmittelbar vor ihnen die Schmach und Seelenangst des Gartens, das Richthaus und das Kreuz auf Golgatha lagen. Es war der Stolz ihres Herzens, ihr Durst nach weltlicher Ehre, wodurch sie verleitet wurden, hartnäckig die falschen Lehren ihrer Zeit festzuhalten und die Worte des Heilandes, welche die wahre Beschaffenheit seines Reiches beschrieben und auf seine Leiden und seinen Tod hinwiesen, unbeachtet zu lassen. Und diese Irrtümer hatten die schwere aber notwendige Prüfung zur Folge, die zu ihrer Besserung zugelassen wurde. Obgleich die Jünger den Sinn ihrer Botschaft verkehrt aufgefaßt hatten und sie ihre Erwartungen nicht verwirklicht sahen, so hatten sie doch die ihnen von Gott aufgetragene Warnung verkündigt, und der Herr wollte ihren Glauben belohnen und ihren Gehorsam ehren. Ihnen sollte das Werk anvertraut werden, das herrliche Evangelium von ihrem auferstandenen Herrn unter allen Völkern zu verbreiten. Um sie dazu geschickt zu machen, wurde die ihnen so bitter vorkommende Erfahrung zugelassen.

Nach seiner Auferstehung erschien Jesus seinen Jüngern auf dem Wege nach Emmaus und „fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren.“ (Luk. 24, 27.) Die Herzen der Jünger wurden bewegt. Der Glaube wurde angefacht. Sie wurden „wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung“, noch ehe Jesus sich ihnen zu erkennen gab. Es lag in seiner Absicht, ihren Verstand zu erleuchten und ihren Glauben an das feste prophetische Wort zu begründen. Er wünschte, daß die Wahrheit in ihren Herzen feste Wurzel fasse, nicht nur weil sie von seinem persönlichen Zeugnis unterstützt war, sondern auch des untrüglichen Beweises willen, der in den Sinnbildern und Schatten des Zeremonialgesetzes sowie in den Weissagungen des Alten Testamentes lag. Es war für die Nachfolger Christi notwendig, einen verständnisvollen Glauben zu haben, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch um die Erkenntnis Christi der Welt verkündigen zu können. Und für den allerersten Schritt in der Erteilung dieser Erkenntnis verwies Jesus die Jünger auf Mose und die Propheten. In der Weise zeugte der auferstandene Heiland von dem Wert und der Wichtigkeit der alttestamentlichen Schriften.

Welch eine Veränderung ging in den Herzen der Jünger vor, als sie noch einmal die geliebten Züge ihres Meisters erblickten! (Luk. 24, 32.) In einem vollkommeneren und vollständigeren Sinn als je zuvor hatten sie  „den gefunden, von welchem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben. “ Die Ungewißheit, die Angst, die Verzweiflung wichen vor der vollkommenen Zuversicht, dem unumwölkten Glauben. Kein Wunder, daß sie nach seiner Auferstehung „waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott.“ Das Volk, das nur von des Heilandes schmachvollem Tod wußte, erwartete in ihren Blicken den Ausdruck von Trauer, Verwirrung und Niederlage zu finden; statt dessen sahen sie Freude und Siegesgefühl. Welch eine Vorbereitung hatten diese Jünger für das ihnen bevorstehende Werk empfangen! Sie hatten die schwerste Prüfung, die sie womöglich befallen konnte, durchgemacht und gesehen, daß das Wort Gottes, als nach menschlichem Urteil alles verloren war, sieghaft in Erfüllung ging. Was vermochte hinfort ihren Glauben zu erschüttern oder ihre glühende Liebe zu dämpfen? In ihren bittersten Ängsten hatten sie „einen starken Trost“, eine Hoffnung, „einen sicheren und festen Anker“ der Seele. (Hebr. 6, 18. 19.) Sie waren Zeugen der Weisheit und Macht Gottes gewesen und wußten „gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine Kreatur“ sie zu scheiden vermochte „von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.“ „In dem allen,“ sagten sie, „überwinden wir weit, um deswillen, der uns geliebt hat.“ (Röm. 8, 38. 39. 37.) „Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.“ „Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auf erweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.“ (l. Petr. 25; Röm. 8, 34.)

Der Herr sagt: „Mein Volk soll nicht mehr zu Schanden werden.“ „Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude.“ (Joel 2, 26; Ps. 30, 6.) Als an seinem Auferstehungstage diese Jünger den Heiland trafen und ihre Herzen in ihnen brannten, da sie seinen Worten lauschten; als sie auf das Haupt, die Hände und Füße blickten, die für sie verwundet worden waren; als Jesus vor seiner Himmelfahrt sie hinaus bis gen Bethanien führte, segnend seine Hände erhob ihnen gebot: „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“, und dann hinzu setzte: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage“; (Mark. 16, 15; Matth. 28, 20.) als am Tage der Pfingsten der verheißene Tröster herabkam und die Kraft aus der Höhe verliehen wurde und die Seelen der Gläubigen von der bewußten Gegenwart ihres aufgefahrenen Herrn ergriffen wurden, hätten sie das, obgleich ihr Weg durch Opfer und Martertod führen würde, das Amt des Evangeliums seiner Gnade und „die Krone der Gerechtigkeit“, die sie bei seinem Erscheinen empfangen sollten, vertauscht gegen die Herrlichkeit eines irdischen Thrones, welche die Hoffnung ihrer früheren Jüngerschaft gewesen war? Der „aber, der überschwenglich tun kann über alles, das wir bitten oder verstehen,“ hatte ihnen mit der Gemeinschaft seiner Leiden auch die Gemeinschaft seiner Freude verliehen - der Freude, „viel Kinder zur Herrlichkeit“ zu führen; unaussprechliche Freude, „eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit“, der gegenüber, wie Paulus sagt, „unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist,“ „der Herrlichkeit nicht wert“ ist.

Die Erfahrung der Jünger, welche beim ersten Kommen Christi „das Evangelium vom Reich“ verkündigten, hat ihr Gegenstück in der Erfahrung derer, welche die Botschaft seiner Wiederkunft verbreiteten. Gleichwie die Jünger hinausgingen und predigten: „Die Zeit ist erfüllet, das Reich Gottes ist herbei gekommen“, so verkündigten Miller und seine Mitarbeiter, daß die längste und letzte prophetische Zeitperiode, welche die Bibel erwähnt, fast zu Ende sei, daß das Gericht unmittelbar bevorstehe und das ewige Reich bald anbrechen solle. Das Predigen der Jünger bezüglich der Zeit war auf die 70 Wochen von Daniel 9 gegründet. Die von Miller und seinen Genossen verbreitete Botschaft kündete den Ablauf der 2300 Tage von Dan. 8, 14 an, von welchen die 70 Wochen einen Teil bilden.

Somit hatten die Predigten beiderseits die Erfüllung eines, wenn auch verschiedenen Teiles derselben großen prophetischen Zeitspanne zur Grundlage.

Gleich den ersten Jüngern verstanden auch William. Miller und seine Genossen selbst nicht völlig die Tragweite der Botschaft, die sie verkündigten. Lange in der Kirche genährte Irrtümer verhinderten sie, zu der richtigen Auslegung eines wichtigen Punktes der Weissagung zu gelangen, und obgleich sie die Botschaft, welche Gott ihnen zur Verkündigung an die Welt anvertraut hatte, predigten, wurden sie dennoch durch die verkehrte Auffassung ihrer Bedeutung enttäuscht.

In der Erklärung von Dan. 8, 14: „Bis Zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden“, hatte Miller, wie bereits gesagt, die allgemein herrschende Ansicht angenommen, daß die Erde das Heiligtum sei, und er glaubte, daß die Weihung des Heiligtums die Läuterung der Erde durch Feuer am Tage der Zukunft des Herrn sei. Als er deshalb fand, daß der Ablauf der 2300 Tage bestimmt angegeben worden war, schloß er daraus, daß dies die Zeit der zweiten Ankunft offenbare. Sein Irrtum entstand dadurch, daß er bezüglich des Heiligtums die volkstümliche Ansicht annahm.

In dem Schattendienst, welcher ein Hinweis auf das Opfer und die Priesterschaft Christi war, machte die Weihe oder Reinigung des Heiligtums den letzten Dienst aus, der von dem Hohenpriester im jährlichen Amtszyklus verrichtet wurde. Es war dies das Schlußwerk der Versöhnung, ein Wegschaffen oder Abtun der Sünde von Israel, und versinnbildete das Schlußwerk im Amt unseres Hohenpriesters im Himmel, in welchem er die Sünden seines Volkes, die in den himmlischen Büchern verzeichnet stehen, wegnimmt oder austilgt. Dieser Dienst erfordert eine Untersuchung, ein Richten, und geht der Wiederkunft Christi in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit unmittelbar voraus; denn, wenn er erscheint, ist ein jeglicher Fall schon entschieden worden. Jesus sagt: „Mein Lohn [ist] mit mir, zu geben einem jeglichen wie seine Werke sein werden.“ (Offb. 22, 12.) Dieses der zweiten Ankunft unmittelbar vorausgehende Gericht wird in der ersten Engelsbotschaft von Offb. 14, 7 verkündigt: Fürchtet Gott und gebet ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen!“

Alle, welche diese Warnung verkündigten, gaben die richtige Botschaft zur rechten Zeit. Doch wie die ersten Jünger auf Grund der Weissagung in Daniel 9 erklärten: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbei gekommen“, und dennoch nicht erkannten, daß der Tod des Messias in der nämlichen Schriftstelle angekündigt wurde; so predigten auch Miller und seine Mitarbeiter die auf Dan. 8, 14 und Offb. 14, 7 gegründete Botschaft, ohne zu erkennen, daß in Offenbarung 14 noch andere Botschaften vorgeführt waren, welche ebenfalls vor der Wiederkunft des Herrn verkündigt werden sollten. Wie die Jünger sich über das Reich täuschten, welches am Ende der 70 Wochen aufgerichtet werden sollte, so irrten die Adventisten bezüglich des Ereignisses, welches sich am Ende der 2300 Tage zutragen sollte. In beiden Fällen war es eine Annahme oder vielmehr ein Festhalten - der volkstümlichen Irrtümer, wodurch der Sinn gegen die Wahrheit verblendet wurde. Jene sowie diese erfüllten den Willen Gottes, indem sie die Botschaft brachten, die verbreitet werden sollte, und beide Parteien wurden infolge der eigenen verkehrten Auffassung ihrer Botschaft enttäuscht.

Dennoch erreichte Gott seine eigene gute Absicht und ließ es zu, daß die Warnung des Gerichts auf die erwähnte Weise verkündigt wurde. Der große Tag war herbei gekommen, und in seiner Vorsehung wurden die Menschen in bezug auf die bestimmte Zeit geprüft, um ihnen zu offenbaren, was in ihren Herzen war. Die Botschaft war zur Prüfung und Reinigung der Gemeinden bestimmt. Sie sollten zur Einsicht gebracht werden, ob ihre Herzen auf diese Welt oder auf Christum und den Himmel gerichtet seien. Sie gaben vor, den Heiland zu lieben; nun sollten sie ihre Liebe beweisen. Waren sie bereit, ihre weltlichen Hoffnungen und ehrgeizigen Pläne fahren zu lassen und mit Freuden die Ankunft ihres Herrn zu erwarten? Die Botschaft war dazu bestimmt, sie zu befähigen, ihren wahren geistlichen Zustand zu erkennen; sie war in Gnaden gesandt worden, um anzuspornen, den Herrn mit Reue und Demut zu suchen.

Auch die Täuschung, obgleich sie die Folge ihrer eigenen verkehrten Auffassung der Botschaft war, welche sie verkündigten, sollte zum Besten gewendet werden. Sie stellte die Herzen, welche vorgegeben hatten, die Warnung anzunehmen, auf die Probe. Würden sie angesichts ihrer Enttäuschung ohne weiteres ihre Erfahrung aufgeben und ihr Vertrauen auf das Wort Gottes wegwerfen? Oder würden sie mit Gebet und Demütigung zu entdecken suchen, worin sie verfehlt hatten, die Bedeutung der Weissagung zu erfassen? Wie viele hatten aus Furcht, aus blindem Antrieb und in Erregung gehandelt? Wie viele waren halbherzig und ungläubig? Tausende bekannten, die Erscheinung des Herrn liebzuhaben. Würden sie, wenn berufen, Spott und Schmach der Welt zu leiden, Verzögerung und Enttäuschung zu ertragen, den Glauben verleugnen? Würden sie, weil sie Gottes Verfahren mit ihnen nicht gleich verstehen konnten, Wahrheiten beiseite setzen, welche auf den deutlichsten Aussagen seines Wortes beruhten?

Diese Probe sollte die Standhaftigkeit derer offenbaren, welche im Glauben gehorsam gewesen gegen das, was sie als Lehre des Wortes und des Geistes Gottes annahmen. Diese Erfahrung sollte, wie keine andere es tun kann, ihnen die Gefahr zeigen, Theorien und Auslegungen der Menschen anzunehmen, anstatt die Bibel zu ihrem eigenen Ausleger zu machen. In den Kindern des Glaubens wurden die aus ihrem Irrtum hervorgehenden Schwierigkeiten und Sorgen die nötige Besserung wirken; sie würden zu einem gründlicheren Studium des prophetischen Wortes veranlaßt werden, würden lernen, mit mehr Sorgfalt die Grundlagen ihres Glaubens zu prüfen und alles Unbiblische, wie weitverbreitet es in der Christenwelt auch sein mochte, zu verwerfen.

Diesen Gläubigen sollte, wie einst den ersten Jüngern, das, was dem Verständnis in der Stunde der Prüfung dunkel schien, später aufgeklärt werden. Würden sie „das Ende des Herrn“ sehen, dann würden sie auch wissen, daß trotz den aus ihren Irrtümern hervorgehenden Schwierigkeiten seine Absichten der Liebe ihnen gegenüber sich beständig erfüllt haben. Sie würden durch eine Segen bringende Erfahrung erkennen, daß der Herr „barmherzig und ein Erbarmer“ ist; daß alle seine Wege „eitel Güte und Wahrheit“ sind „denen, die seinen Bund und Zeugnis halten.“


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